piwik no script img

Amerikas Fernsehvolk wartet nach den Schlußplädoyers auf das Urteil im Prozeß gegen O. J. Simpson. Im Brennpunkt stehen jetzt die Geschworenen – und die sind nach neun Monaten „Isolationshaft“ konfus und entnervt. Aus Washington Andrea Böhm

Sofajuristen gespannt auf letzte Folge

Den Satz muß man sich immer wieder laut vorsagen, um es auch wirklich zu glauben: Der O. J. Simpson-Prozeß geht seinem Ende zu. Seit über 34 Wochen wird verhandelt, gefeilscht, beschimpft, geweint, intrigiert und ins Blaue spekuliert – und das vor laufender Kamera. Der Angeklagte, ein Zeuge und zwei ehemalige Geschworene haben schon Bücher über ihre Rolle im „Prozeß des Jahrhunderts“ geschrieben – und mehr oder weniger gut abkassiert (s. Beitrag unten). Das weitaus schlechtere Hollywood-Fernsehdrama zur Realvorlage ist längst gesendet und vergessen. Alle gerichtsirrelevanten Aspekte, angefangen vom Ehezwist der Staatsanwältin über den Laptop-Computer des Richters bis zu den Pornofilmen eines Zeugen, sind aufgedeckt, beleuchtet und kommentiert. „Es ist erstaunlich, wie tief wir hier gesunken sind“, seufzte am letzten Tag der Beweisaufnahme Richter Lance Ito.

Widersprechen möchte man ihm nicht, doch andrerseits wird Ito der massenbildenden Wirkung des Prozesses nicht gerecht: Millionen US-Bürger haben sich in den letzten neun Monaten vor dem Fernsehen zu Sofajuristen weitergebildet. Sie können im Schlaf die Definition von Mord ersten und zweiten Grades herunterleiern, den fünften Zusatzartikel zur US- amerikanischen Verfassung (das Recht, selbstinkriminierende Aussagen zu verweigern) erklären und über verschiedene Methoden zur Analyse von Blutproben fachsimpeln.

Sie versäumen keinen Tag, den Gott, CNN und Court-TV geben, um stundenlang Aussagen von drögen Experten über DNA-Tests zu lauschen, mit Angehörigen der Mordopfer im Zeugenstand zu leiden oder Großaufnahmen von blutigen Handschuhen und Socken zu studieren. Viele haben – wie die 54jährige Hausfrau Susie Gershon aus Prairie Village, Kansas, der Presse ausführlich berichtete – die Erledigung ihrer alltäglichen Pflichten an die Übertragungszeiten aus dem Gerichtssaal in Los Angeles angepaßt. „Wenn das Gericht Mittagspause macht, erledige ich meine Einkäufe.“ Auf US- Flughäfen bieten Ausschnitte aus dem Gerichtssaal durch das CNN- Airport-Programm Kurzweil für die Reisenden. Immigranten schätzen die TV-Übertragung, weil sie auf diese Weise lebensnahes Englisch und einige Grundsätze über das „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ mitbekommen, etwa: nichts glauben und alles für möglich halten.

Doch ebenso wie die leidgeprüften zwölf Geschworenen sind auch die Fernsehzuschauer – und erst recht das ausländische Publikum – nach neun Monaten Verhandlung so konfus wie die Leser eines russischen Romans ohne Personenverzeichnis. Deshalb in aller Kürze, bevor die Jury sich zur Beratung zurückzieht, die wichtigsten Namen und Stichworte:

Die Tat: In der Nacht des 12. Juni 1994 finden Nachbarn die grausam zugerichteten Leichen von Nicole Brown Simpson und Ronald Goldman, einem Kellner aus einem nahegelegenen Restaurant. Nicole Simpsons Kopf ist durch ein Messer fast vom Rumpf getrennt, Goldmans Leiche weist unzählige Stichwunden auf. Als Hauptverdächtiger gilt sehr bald ...

O. J. Simpson: Angeklagter, genannt „The Juice“ (umgangssprachlich für „Strom“, was sich auf seine Schnelligkeit als Footballspieler bezieht). Ex-Ghettokid, Ex-Footballstar, Ex-Schauspieler, Ex-Werbeträger, Ex-Sportkommentator. Soll nach Darstellung der Staatsanwaltschaft seine geschiedene Frau auf deren Grundstück aus Eifer- und Herrschsucht getötet haben. Goldman, der eine Sonnenbrille zurückbringen wollte, die Nicole Brown Simpson im Restaurant hatte liegenlassen, war demnach zur falschen Zeit am falschen Ort. Nachdem ein Haftbefehl erlassen wird, versucht Simpson in seinem weißen Ford Bronco zu türmen, und führt eine Karawane von Streifenwagen auf eine bizarre Verfolgungsjagd über die Stadtautobahnen von Los Angeles. Alle großen Fernsehsender übertragen live. Am Straßenrand stehen Fans und jubeln ihrem Helden zu. In den USA beginnt eine kurze Debatte über den Niveauverfall und die Sensationsgier der Medien. Autohändler verzeichnen wachsende Absatzzahlen für weiße Ford Broncos. Vor dem Gerichtsgebäude machen Straßenhändler reißenden Umsatz mit T-Shirts. Aufschrift: „Free the Juice“ oder „I killed Nicole“.

Die Beweise erscheinen zunächst erdrückend: Die Polizei entdeckt auf dem Anwesen Simpsons einen blutverschmierten Handschuh, dessen Gegenstück am Tatort gefunden worden war. Fußabdrücke und Blutspuren an Simpsons Socken und in seinem Ford Bronco stimmen mit Blutspuren am Tatort überein. Die Staatsanwaltschaft präsentiert Tonbänder und Fotos einer grün und blau geschlagenen Nicole Simpson Brown, die im Verlauf der Ehe mehrfach die Polizei alarmiert hat, um vor einem tobenden Ehemann geschützt zu werden. In den USA beginnt eine kurze, aber heftige Debatte über Gewalt in der Ehe. Mehrere Bundesstaaten diskutieren Gesetzesverschärfungen.

Die Staatsanwaltschaft, vertreten durch eine weiße Frau, Marcia Clark, und einen schwarzen Mann, Christopher Darden, handelt sich nach mehreren Monaten eine Riesenpleite ein, als sie den Angeklagten vor den Augen der Jury auffordert, besagte Handschuhe anzuziehen. Diese passen nicht, weil Simpson Gummihandschuhe trägt. Der Effekt auf die Geschworenen ist verheerend. Das hindert zahlreiche Männer nicht daran, Marcia Clark vor der Fernsehkamera, per Fax oder E-Mail Heiratsanträge zu machen. Christopher Darden wird von der Boulevardpresse ein Flirt mit Anita Hill, bekannt aus Funk und Fernsehen im Zusammenhang mit dem Vorwurf sexueller Belästigung gegen den Richter des U.S. Supreme Courts, Clarence Thomas, angedichtet. Die Medien haben sich längst auf einen Marathonprozeß eingerichtet und sich in umliegenden Hotels und vor dem Gericht eingemietet.

Die Verteidigung, eine pittoreske Ansammlung der teuersten Anwälte und Privatdetektive, konstruiert eine gewagte Verschwörungstheorie, in der Killer aus dem kolumbianischen Drogenkartell auftauchen und Polizisten Beweismittel gegen ihren Mandanten fingiert haben. Beweisen kann die Verteidigung davon nichts, doch sie findet im Lauf des Prozesses einen treuen Freund und Helfer im Los Angeles Police Department (LADP). Die Vernehmung des LAPD-Kriminologen Dennis Fung fördert soviel Schlamperei und Pfusch zutage, daß die Jury im Gerichtssaal und vor dem Fernseher den Eindruck haben muß, in Polizeilabors würden Mikroskope mit Kernseife gewaschen und Blutproben zu Cocktails gemixt.

Gegen Ende des Verfahrens tauchen Tonbänder einer Drehbuchautorin auf, die die rassistischen und sexistischen Haßtiraden des Hauptbelastungszeugen Mark Fuhrmann enthalten, jenes weißen Polizisten, der den blutigen Handschuh auf Simpsons Grundstück gefunden haben will. O-Ton Fuhrmann: „Polizistinnen? Die stehen nur rum und machen gar nichts. Die gehen doch nicht los und legen sich mit einem 1,90 großen Nigger an, der sieben Jahre im Knast Gewichte gestemmt hat.“

In den Vereinigten Staaten bricht eine Debatte über Korruption und Rassismus in der Polizei los. Vor dem Gerichtsgebäude in Los Angeles werden T-Shirts angeboten, die Fuhrmann in einem Fadenkreuz zeigen. Umfragen ergeben, daß die Mehrheit der weißen Amerikaner Simpson nach wie vor für schuldig hält, während die Mehrheit der Schwarzen an eine Polizeiverschwörung glaubt.

Staranwalt Johnny Cochran vergleicht Fuhrmann in seinem Schlußplädoyer mit Adolf Hitler und erklärt den Geschworenen, nur durch einen Freispruch könne der rassistischen Praxis der US-Polizei begegnet werden. Der Vater von Ronald Goldman beschimpft daraufhin Cochran vor laufenden Kameras als „Hure des Justizsystems“, woraufhin die Angehörigen von O. J. Simpson in einem Pressekonferenzduell Goldman attackieren und dabei bekanntgeben, daß sie sich mittlerweile von Leibwächtern der „Nation of Islam“ beschützen lassen. Mittlerweile haben sich wieder alle großen Sender live in die multikulturelle Real-Soap-Opera aus Los Angeles eingeschaltet. Die Einnahmen für Werbespots steigen drastisch (s. Kasten unten).

Richter Lance Ito trägt am Jahrmarktscharakter des Prozesses einige Mitschuld, nicht zuletzt weil er die TV-Übertragung zugelassen und in einem Interview freimütig über sein Privatleben und den Prozeß geplaudert hat. Das hat ihm, der den Prozeß jetzt nur noch schnell hinter sich bringen will, einen großen Bekanntheitsgrad eingetragen. Davon profitierte mit Fernsehauftritten eine Tanz- und Tingeltruppe unter dem Namen „The Dancing Itos“ mit Vollbärten, Roben und Sombreros.

Die Geschworenen erfahren von all dem nichts, weil sie seit neun Monaten von der Außenwelt in einem Hotel isoliert sind, nur ausgewählte Filme, Fernsehnachrichten und Zeitungslektüre zu sehen bekommen und von Angehörigen nur zu festgelegten Zeiten besucht werden dürfen. Richter Ito will durch diese De-facto-Inhaftierung die Unvoreingenommenheit der Jury garantieren. Von den zwölf Geschworenen und ihren fünf Ersatzleuten (17 Frauen, sieben Männer, darunter 15 Schwarze, fünf Weiße, zwei Hispanics) hat Ito inzwischen acht Mitglieder ausgeschlossen, weil sie entweder bei der Auswahl falsche Angaben gemacht haben sollen oder in Verdacht geraten waren, ihre Erfahrungen im „Prozeß des Jahrhunderts“ in lukrative Mediendeals umsetzen zu wollen. Bis zur Beginn der Schlußplädoyers in dieser Woche haben die Geschworenen über 120 Zeugen und über 1.100 Beweisanträge gehört. Garantiert sein dürfte nur eines: Sie sind konfus – und entnervt.

Die Prognosen: Die Geschworenen haben vier Optionen:

– 1: Sie können den Angeklagten freisprechen.

– 2: Sie können ihn wegen Mordes ersten Grades schuldig sprechen, was eine lebenlange Freiheitsstrafe ohne Bewährung nach sich ziehen würde.

– 3: Sie können ihn wegen Mordes zweiten Grades schuldig sprechen, was zu 15 Jahren bis lebenslänglich führen würde.

– 4: Sie können sich auf keinen Schuldspruch einigen. Am wahrscheinlichsten: Option 4.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen