Chiracs erster Generalstreik

Frankreichs öffentlicher Dienst geht einen Tag lang nicht zur Arbeit: Protest der Gewerkschaften gegen Privatisierung und Lohneinfrierung  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

Fünf Monate nach seinem Amtsantritt steht Jacques Chirac das Wasser bis zum Hals: Nachdem Frankreichs Präsident sich international mit Hilfe seiner Atomtests ins Abseits gebombt hat, nachdem er im Inneren mit hochgerüsteten Terroristen zu tun hat und nachdem der Franc stetig an Wert verliert und immer mehr ausländische Investoren Frankreich den Rücken kehren, findet heute auch noch ein Streik des öffentlichen Dienstes statt, der voraussichtlich das ganze Land lahmlegen wird.

Fünf Millionen Beamte und Angestellte des öffentlichen Dienstes – von der Post über die Schulen bis hin zur Eisenbahn – sind aufgerufen, die Arbeit für 24 Stunden niederzulegen. Maximal ein Viertel der U-Bahnen, Züge und Busse wird verkehren, die Krankenhäuser werden einen Notdienst einrichten, und selbst die Polizei, deren Beamte laut Gesetz kein Streikrecht haben, wird sich an der Aktion beteiligen und statt Strafmandaten Flugblätter an falsch geparkte Autos heften.

Die Gründe für den Streik sind vielfältig: Er richtet sich gegen die von der Regierung verhängte Einfrierung der Löhne und Gehälter im öffentlichen Dienst 1996, gegen die Angleichung der Ruhestandsgelder für Beamte an die – wesentlich niedrigeren – Renten in der privaten Wirtschaft, gegen die Privatisierung zahlreicher Staatsbetriebe, darunter die Post, und gegen die Zerstückelung der öffentlichen Verkehrsunternehmen.

Erstmals seit 1986 rufen alle Gewerkschaften gemeinsam zu der Kampfaktion und den zahlreichen Demonstrationen auf. Und obwohl die Regierung bereits verkündet hat, daß der Streik, wie stark er werde, „nichts“ an ihrer Politik ändern könne, rechnen Gewerkschafter und linke Oppositionspolitiker dieses Mal mit einem großen Erfolg.

Unfreiwillig hat Regierungschef Alain Juppé die Streikbereitschaft gefördert, als er öffentlich die „Privilegien der Beamten“ geißelte. Das empörte die Staatsdiener um so mehr, als bekannt wurde, daß derselbe Juppé in seiner Zeit als Mitarbeiter des Pariser Bürgermeisters Chirac sich selbst und seinem Sohn stadteigene Wohnungen mit hoch subventionierten Mieten genehmigt hatte. Und weil er dabei nicht nur besonders schön gelegene Objekte auswählte, sondern auch noch sich selbst eine Renovierung in Höhe von 1 Million Francs (ca. 300.000 Mark) auf Stadtkosten gönnte und seinem Sohn einen beträchtlichen monatlichen Mieterlaß gewährte, läuft jetzt ein Ermittlungsverfahren gegen den Regierungschef. Seine Ankündigung vom Ende vergangener Woche, er werde umziehen, wird ihn nicht vor einem eventuellen Verfahren retten.

Im Wahlkampf hatte Chirac vor allem eine Politik gegen den „sozialen Graben“ versprochen – Maßnahmen, die die wirtschaftliche und soziale Verelendung seiner Landsleute stoppen sollten. Damit gelang es ihm, Wähler aus dem sozialistischen Lager abzuwerben. Längst ist klar, daß diesen Versprechungen keine Taten folgen. Chirac, ohnehin derjenige Präsident der V. Republik, der die geringste Wählerzahl hinter sich sammeln konnte, ist seit Mai stetig unpopulärer geworden. Eine Meinungsumfrage des Louis- Harris-Instituts zeigt, daß gegenwärtig zwei Drittel der Franzosen eine Verschlechterung der Situation ihres Landes beobachten. Dem Streik im öffentlichen Dienst sehen die meisten Franzosen gelassen entgegen. Wer sich aus Angst vor Lohnverlust trotzdem auf den Weg zur Arbeit macht, stellt sich mit Proviant und reichlich Lektüre darauf ein, einen Tag im Stau zu verbringen. Ein paar werden aufs Rad umsteigen, und viele werden zu Hause bleiben.

Der für den öffentlichen Dienst zuständige Minister hat den Streik als „völlig unnütz“ bezeichnet und vorgerechnet, daß das Gesamtvolumen der Lohnzahlungen im kommenden Jahr trotz der eingefrorenen Löhne steigen wird. Ähnlich verständnislos hatte vor wenigen Tagen das Luftfahrtunternehmen „Air France“ reagiert, dessen Mitarbeiter vereinzelte Streiks gegen die geplanten „Umstrukturierungen“ machten. „Air France“ änderte kurzentschlossen seine Werbestrategie. In ihren Werbefilm, der die bequemen Sitze und den Luxus der ersten Klasse anpreist, wurde die Warnung eingebaut: Mehrere Gewerkschaften gefährden jetzt unsere Leistungen.

Frankreichs Gewerkschaften, die seit Jahren einen steten Verlust an Mitgliedern und politischem Einfluß verzeichnen, sprechen bereits von einem „heißen Herbst“. Bei dem einen Streiktag, so drohte der Chef der größten Gewerkschaft CGT, Louis Viannet, bereits, werde es nicht bleiben.