: "Wer dies tat, kannte sich aus"
■ Ein Toter und Dutzende Verletzte bei dem Anschlag einer unbekannten Spinnergruppe auf einen Zug in einer der unzugänglichsten Ecken der USA. Ermittler und Überlebende vermuten "Rache für Waco"
Phoenix (wps/taz) – „Ich dachte mir: Einen Zug haben sie noch nicht bombardiert“, erinnert sich Lou Ann Zulawski an ihre Zugfahrt nach San Antonio in Texas am Montag abend, wo sie in den Langstreckenzug „Sunset Limited“ nach Los Angeles umstieg. In diesem Zug, der in Miami seinen Weg quer durch die USA begonnen und unter anderem im Oklahoma City Halt gemacht hatte, waren die Gesprächsthemen nicht viel anders: „Alle diese verrückten Dinge, die zur Zeit so passieren“, habe man diskutiert, erinnert sich Craig Lembke – die Sekte von Waco, den Bombenanschlag von Oklahoma City. Dann seien die Fahrgäste schlafengegangen.
Um ein Uhr morgens kam der Zug mitten in der entlegensten Ecke der Wüste von Arizona auf einer Eisenbahnbrücke von den Gleisen ab. Vier Wagen stürzten zehn Meter in die Tiefe. Ein Bahnangestellter starb, um die 100 Menschen wurden verletzt. 22 schwebten gestern noch in Lebensgefahr.
Es war kein Unfall. „Jemand hat sich unerlaubterweise an den Gleisen zu schaffen gemacht“, erklärte der lokale Sheriff Joseph Arpaio am nächsten Morgen am Unglücksort. „Wir haben Terroristen und Terrorismus im ganzen Land, und jetzt hat es unseren Distrikt erwischt“, so Arpaio. „Wir hatten ein Problem in New York. Wir hatten ein Problem in Oklahoma City. Nun haben wir Probleme hier.“
Am Tatort wurde ein computerausgedrucktes Bekennerschreiben gefunden. Den genauen Inhalt hielten die Behörden gestern noch geheim – aber eine Reihe von Überlebenden konnten das Schreiben lesen, bevor die Polizei es an sich nahm. Ein „geschmackloses Gedicht“ habe auf dem sorgfältig unter einem Stein abgelegten Papier gestanden, berichtete einer. „Oben wird geschlafen, während unten die Kerosinlampe brennt“, heiße es darin, wußte ein anderer; die US-Polizei werde „für alles“ verantwortlich gemacht. „So wie ich es verstand, hatte es auf jeden Fall mit der Waco-Sache zu tun“, schwor ein dritter Leser. Ein anderer erinnerte sich an die Unterschrift „Sons of Gestapo – SOG“.
Sie könne sich nicht an die Einzelheiten erinnern, aber es sei „ein Märtyrergedicht“ gewesen, wußte eine Frau: Das FBI werde darin wegen der Ereignisse im texanischen Waco kritisiert, wo am 19. April 1993 bei der Erstürmung des Hauptquartiers der Davidianer-Sekte durch die US-Polizei alle 72 Menschen im Sektengebäude ums Leben gekommen waren. „Es ging weiter mit einem Haufen Opferzeug, sowas wie ,Während das Licht ausgeht, sprechen eine Mutter und ihre Tochter das Gebet‘. Solches Zeug.“ Ein Beamter sagte später, der Anschlag sei laut Bekennerschreiben die „Vergeltung“ für die „armen Leute von Waco“. Waco gilt den Rechtsextremen der USA als Symbol für staatliche Unterdrückung.
Der Anschlag fand tief in einer Wüste statt, wo keine Straßen hinführen. Die betroffene Bahnlinie ist eine selten befahrene, eingleisige und ausschließlich von Passagierzügen genutzte Nebenstrecke, die im nächsten März geschlossen werden soll. „Sogar Leute, die seit Jahrzehnten hier leben, wissen nicht, wo das liegt“, erklärte der Feuerwehrmann Mark Phillips. Die als Ziel ausgesuchte Eisenbahnbrücke führte über ein trockenes Flußbett inmitten unzugänglicher Schluchten. Die Helfer brauchten 40 Minuten, um den Absturzort zu erreichen, und mußten ihr Erste- Hilfe-Zentrum zehn Kilometer vom Unglücksort entfernt einrichten, so daß die Bergung der Verletzten in der rabenschwarzen Wüstennacht fern von jeglicher künstlichen Beleuchtung fünf Stunden dauerte und die Evakuierung im Schneckentempo auf Sandpisten noch länger. „Wer dies tat“, so ein Polizist, „kannte sich aus“.
Die Attentäter gingen professionell vor. Zunächst schalteten sie eine parallele Stromleitung, um die Signalanlagen intakt zu halten – die haben unter anderem die Funktion, Zugführer vor möglichen Schäden auf der Strecke zu warnen. Dann wurden zwei Schienen voneinander getrennt und gelockert, so daß der Zug aus den Gleisen springen mußte.
Arizonas Gouverneur J. Fife Symington sprach gestern von einem „gut geplanten Akt der Gewalt“. US-Präsident Clinton erklärte: „Wir werden derartige feige Akte nicht tolerieren“. Das FBI hat die Ermittlungen übernommen. Aber von den Tätern gibt es keine Spur. D.J.
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