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Hundert Stimmen können entscheiden

Ein Milieu, zwei Parteien: Wie zwei ehemalige Bürgerrechtler im Prenzlauer Berg Wahlkampf machen  ■ Aus Berlin Severin Weiland

Der da entwischt mir nicht“, sagt Marianne Birthler, „der hat zu spät weggesehen.“ Doch der Mann mit Nickelbrille und geschulterter Ledertasche muß sie enttäuschen. „Ich bin Ausländer, ich darf nicht wählen.“ „Schade“, sagt die Kandidatin und lächelt. Es geht um jede Stimme. Ein trüber Oktobertag, Vormittag an einer der Hauptstraßen im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg. Am Morgen hat eine Tageszeitung für Birthler und ihre bündnisgrünen Parteifreunde recht unerfreuliche Zahlen veröffentlicht: landesweit 12 Prozent für ihre Partei, aber nur noch 25 Prozent für die SPD, 14 hingegen für die PDS und 41 für die CDU. Das ist zuwenig, um mit den Sozialdemokraten die Große Koalition abzulösen.

„Aber was hilft's?“, meint die 47jährige Birthler, fängt weiter Vorbeihastende ab oder hört geduldig zu. Da ist eine Rentnerin, die mit ihrer Freundin zusammenziehen will. „Ich glaube, da kann ich Ihnen wenig helfen“, antwortet die Kandidatin und drückt der alten Dame ein wenig ratlos die Broschüre über grüne Wohnungspolitik in die Hand. Wahlkampf im Osten – das ist in erster Linie Bürgerberatung. Ob Arbeitslosigkeit, Mieten, Spielplätze, die Menschen wollen konkrete Antworten.

Birthler hat es doppelt schwer. Als Direktkandidatin und ohne über die Landesliste abgesichert zu sein, kämpft sie im Wahlkreis IV um einen Sitz im Abgeordnetenhaus. Ihre Konkurrenz ist nicht minder populär. Neben der SPD-Abgeordneten Irana Rusta tritt für die PDS der parteilose Bernd Holtfreter an. Rund um den Kollwitzplatz, wo Birthler wohnt, lebt jene eigenwillige und unberechenbare Mischung aus Prenzlauern: Bürgerrechtler neben ehemaligen SED-Kadern, Künstler neben Sozialhilfeempfängern, alteingesessene Rentner neben Studenten aus Westdeutschland. Ein Milieu, in dem sich PDS, Grüne und SPD gegenseitig auf die Füße treten. „Das wird“, glaubt Birthlers Wahlkampfkoordinator Matthias Dittmer, „ein Kopf-an-Kopf-Rennen“ – vor allem zwischen den Bündnisgrünen und der PDS.

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Birthlers Konkurrent rutscht unruhig hin und her. Holtfreter, im dunklen Sakko, mit hoher Stirn und langen Haaren, diskutiert in einem Projektladen am Kollwitzplatz über Wohnungspolitik. Mancher der rund 30 Anwesenden nimmt ihm seine Kandidatur übel. Was hat so einer, der in der DDR erfolgreich gegen den Abriß ganzer Straßenzüge kämpfte, bis die SED-Genossen schließlich nachgaben, ausgerechnet bei der PDS zu suchen?

Warum er denn ins Abgeordnetenhaus wolle? Hämisches Gelächter. „Wohl wegen der Diäten“, zischt ein Zuhörer. Holfreter winkt ab. Immer wieder muß er sich rechtfertigen. Matthias Klipp, ein Mitkämpfer aus früheren Ostberliner Zeiten und heute bündnisgrüner Baustadtrat im Bezirk, schenkt ihm nichts. „Mit Holtfreter für die PDS im Abgeordnetenhaus sinken die Chancen für Rot-Grün.“ So wie Klipp will Holtfreter niemals werden – sagt er. Klipp redet mit Senatoren, findet den Bundesbauminister Klaus Töpfer einen „vernünftigen Menschen“, macht Kompromisse. Holtfreter aber will Opposition bleiben. Sein Platz, sagt er, „ist die Basis“. Nach der Wende gründete er 1991 die Mieterinitiative „Wir bleiben alle“ und streitet sich nun mit Klipp um Leerstand, Sanierung und notverwaltete Wohnungen: „Alle, die Ämter übernommen haben, wollten verändern. Am Ende haben sie sich verändert“.

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Marianne Birthler war schon einmal ganz oben. 1990 übernahm sie das Amt der Bildungsministerin in der Brandenburger Landesregierung. Doch nach zwei Jahren trat die Bürgerrechtlerin aus Protest gegen die Stasiverstrickungen von Ministerpräsident Manfred Stolpe zurück. Der Abschied sei ihr schwergefallen: „Ich hatte noch viel vor.“ Daß ein Amt den Menschen selbst verändert, sei ihr stets bewußt gewesen. Sie weiß, wie erschreckend bequem Phrasen sein können. Mit dem Wahlkampf testet sie auch sich selbst: „Man wird viel sensibler dafür, an welchen Stellen die eigene Argumentation greift oder einfach nur hohl wird.“

Wie kein anderer grüner Kandidat hat sie sich ein umfangreiches Programm auferlegt. An die 1.500mal klingelte sie in den letzten sechs Wochen an Haustüren. Ablehnung habe sie „fast nie“ erfahren, sagt Birthler, aber schon manche „Begegnung der dritten Art“. Etwa jenen Besuch bei einer ehemaligen NVA-Angehörigen, die in die Bundeswehr übernommen und später wegen Stasikontakten gekündigt wurde: „Diese Frau hat mir gesagt, wie toll sie es fand, daß ich wegen Stolpe aufgehört habe.“

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Stasi und PDS – ein Reizwort für Bernd Holtfreter. Zu oft hat man den 44jährigen schon nach den ehemaligen IMs in der Gysi-Partei gefragt. Die Angriffe früherer Mitstreiter, die ihm politische Naivität vorwerfen, deutet er als Zeichen von Verzweiflung. Es ärgere sie, daß man ihm nichts anhängen könne: „Die große IM-Klatsche, die zieht bei mir nun mal nicht.“ Holtfreter ist die reine Weste der PDS in Prenzlauer Berg. Ob er mißbraucht werde? „Wenn ich die PDS salonfähig machen kann, dann lasse ich mich gern mißbrauchen“, sagt er trotzig. Hausbesetzer grüßen ihn schon seit längerem und jetzt auch jene, die sein Konterfei auf den massenhaft unters Volk gebrachten PDS-Broschüren gesehen haben. Wenn er Brötchen vom Bäcker holt, kann das in diesen Tagen schon mal drei Stunden dauern. Die Bitte der Bündnisgrünen, für sie zu kandidieren, lehnte Holtfreter ab. „Das begreifen manche einfach nicht“, sagt er.

Aber eine plausible Erklärung bleibt Holtfreter auch schuldig, warum einer wie er den Weg zu jenen Genossen fand, die ihn und seine Familie einst schurigelten. 1957 ging sein älterer Bruder in den Westen; als er zehn war, kam sein 18jähriger Bruder wegen „staatsfeindlicher Hetze“ für dreieinhalb Jahre nach Bautzen. Holtfreter lernte Autoschlosser, arbeitete später als Vermesser, schlug sich mit diversen Jobs durch, mußte schließlich 1987 auf Druck der Stasi seine Stelle beim Ministerium für Erzbergbau, Metallurgie und Kali aufgeben und wurde auf den Posten eines Abteilungsleiters für Ersatzteilwirtschaft in einem Ostberliner Kombinat abgeschoben. Dort blieb er bis zur Wende, obwohl „ich nicht die Bohne Ahnung von der Arbeit hatte“. Heute arbeitet er in einem Kreuzberger Architekturbüro. Vielleicht entspringt Holtfreters Einsatz für die PDS der enttäuschten Liebe. Bei der großen Demonstration am 4. November 1989 trug er ein selbstgemaltes Plakat mit der Aufschrift „Links herum zum Rechtsstaat“. „Das mit dem Rechtsstaat“ gefalle ihm natürlich: „Nur daß es eben nicht nach links gegangen ist, das bedauere ich.“

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Die Entscheidung, als Direktkandidatin zur Wahl am 22. Oktober anzutreten, fiel Marianne Birthler nicht leicht. Nachdem sie 1994 als Spitzenkandidatin der brandenburger Bündnisgrünen bei den Bundestagswahlen scheiterte, wollte sie sich eigentlich auf die Leitung des Berliner Büros der grünen Bundestagsfraktion konzentrieren. Auf die Kandidatur zur Landesliste – und damit auf einen sicheren Platz – verzichtete sie, weil „ich mir nach fünf Jahren ununterbrochenenen Reagierens zunächst ein zweijähriges Moratorium verordnet hatte“. Dann jedoch klingelte die grüne Bezirksgruppe im Prenzlauer Berg bei ihr an, und nach einem Gespräch mit ihren drei Töchtern sagte sie zu. „Ich sehe das auch als eine sportliche Angelegenheit.“ Ein Sieg, hofft sie, könnte auch die gebeutelten ostdeutschen Landesverbände motivieren. Ihrem brandenburgischen Kreisverband Priegnitz hält sie nach wie vor die Treue.

Birthler redet pragmatisch. Wo andere ehemalige Bürgerrechtler rigorosen Moralismus propagieren, hält sie sich zurück. Die Stasi- Aufarbeitung – nun gut, aber sie suche das Thema nicht, nur „wenn ich darauf angesprochen werde, antworte ich“. Anbiederung ist ihre Sache nicht. Wenn Schüler auf einer Veranstaltung die Abschaffung der Polizei fordern, hält sie wacker dagegen. Auch die umstrittene Verleihung von Bundesverdienstkreuzen an Bürgerrechtler fand sie in Ordnung: Damit werde das Engagament während der Wende anerkannt. Daß mit Sibyll Klotz ein früheres SED-Mitglied die Landesliste der Bündnisgrünen anführt – warum nicht? Mit Klotz verstehe sie sich „prima“, gegen die Integration früherer SED-Mitglieder sei sie nie gewesen: „Beide haben wir doch mit Klischees zu kämpfen: Klotz ist die SED- Mietze, Birthler auf Vergangenheitsbewältigung fixiert“.

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Einmal konkurrierten Birthler und Holtfreter auf einer öffentlichen Veranstaltung. Böse Worte fielen nicht. „Ich bin froh, daß wir im Bezirk nicht offensiv gegeneinander Wahlkampf führen, sondern jeder seine Sache vertritt“, beteuert Birthler. Ein Wahlkampf, so ruhig wie der aller Parteien in der Stadt. Auch Holtfreter läßt sich keine Spitze über Birthler entlocken. Er ist allerdings sicher, daß die Grünen es in Prenzlauer Berg nicht schaffen werden – trotz Marianne Birthler. „Gegen mich hat sie keine große Chance, weil ich hier bekannt bin wie ein bunter Hund.“

Ob die PDS am Ende die SPD schlägt – darüber schweigt Holtfreter einstweilen. Vor drei Jahren, bei den Wahlen zum Bezirksparlament, lag das aus Grünen und Parteilosen bestehende Bündnis Prenzlauer Berg im Wahlkreis IV nur 300 Stimmen hinter der SPD, aber 500 vor der PDS. „Am Ende wird es diesmal um hundert Stimmen gehen“, hofft Birthlers Wahlkampfkoordinator Dittmer. Als ließe sich ein Sieg beschwören.

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