: Von Reue keine Spur
Der Prozeß gegen den japanischen Sektenführer Asahara ist vorerst geplatzt – gegen seine Anhänger wird bereits wegen Mordes verhandelt ■ Aus Tokio Georg Blume
Die fünfzig GewinnerInnen der heißbegehrten Zuschauersitze im Prozeß gegen Guru Shoko Asahara müssen sich gedulden. Nachdem der Führer der Aum-Sekte kurz vor Verhandlungsbeginn seinen Anwalt entließ, wurde der in Tokio bereits als „Prozeß des Jahrhunderts“ angekündigte Gerichtsakt auf unbestimmte Zeit – voraussichtlich aber bis ins nächste Frühjahr – verschoben. Diese Zeit räumt das Gericht dem neuen Anwalt ein, um sich in die komplexe Materie des mehrfach des Mordes angeklagten Sektenführers einzuarbeiten.
Das Distriktgericht hat entschieden, daß es einen Pflichtverteidiger ernennen will, um weitere Verzögerungen zu vermeiden. Asahara hat allerdings mitteilen lassen, daß er einen neuen Anwalt seines Vertrauens sucht. Warum er seinem bisherigen Verteidiger am Mittwoch, einen Tag vor dem für Donnerstag geplanten Prozeßbeginn, den Laufpaß gab, darüber kann bislang nur spekuliert werden. Die japanische Presse zitiert Justizbeamte, die von einer gezielten Verzögerungstaktik der Sekte sprechen. Auch bei dem Autounfall des abgelösten Guru-Anwaltes am vergangenen Wochenende ist es nach Ansicht vieler Beobachter nicht mit rechten Dingen zugegangen.
Ungeachtet des geplatzten Asahara-Prozesses haben am Dienstag die Verfahren gegen Asaharas engste Mitarbeiter begonnen, von denen weitere sieben des Mordes angeklagt sind. Dabei erwartet die Staatsanwaltschaft in den nächsten Wochen umfangreiche Geständnisse, die nicht zuletzt dazu dienen sollen, Asaharas eigene Unschuldsbehauptung zu entkräften.
Wie gut diese Taktik aufgeht, bleibt dennoch unklar: Denn verhandelt wird gegen einen mutmaßlichen Massenmörder, der wohl niemals selbst getötet hat.
Bekannt geworden ist Asahara als Führer der Aum-Sekte, deren Mitglieder ihn „sonchi“ nennen – zu deutsch: „erhabener Lehrer“. Über zehntausend Anhänger zählte die Sekte zu Jahresbeginn in Japan, über dreißigtausend folgten damals ihrer Lehre in Rußland, wo Aum noch heute eine bedeutende Auslandsniederlassung unterhielt. Wie viele der Mitglieder bis zu den Prozeßbeginnen in dieser Woche Aum verlassen haben, ist unklar. Wahrscheinlich aber sind zumindest in Japan über die Hälfte der Gläubigen ihrem Führer treu geblieben. „Was sich nicht geändert hat, ist die Tatsache, daß sich auch heute junge Leute Aum anschließen“, bemerkte Yomiuri, die größte Tageszeitung des Landes, in diesen Tagen.
Die Greuel, die Aum in Japan verbreitete, sind gleichwohl beispiellos. Wie aus den Anklageschriften der Staatsanwaltschaft gegen niedere Sektenmitglieder inzwischen hervorgeht, begann der Sektenterror nicht erst mit den tödlichen Giftgasanschlägen auf die Tokioter U-Bahn in diesem März, bei denen 12 Menschen getötet und 5.500 verletzt wurden. Die Staatsanwaltschaft glaubt heute, daß die Attentate nur dazu bestimmt waren, die Polizei von einer geplanten Razzia der Aum- Kommune in Kamikuishiki abzulenken. Im April wurde dort Asahara in einer hinter Zwischenwänden versteckten Meditierkammer von der Polizei festgenommen. Zwischen 1991 und 1995 hatte der Guru in dem kleinen Dorf Kamikuishiki am Fuße des Fujiyama, so die Anklage, seine Gefolgsleute dazu angestiftet, bis zu fünf Sektenanhänger unter den Augen anderer Mitglieder umzubringen.
Einzelhaft in Dunkelzellen war im Aum-Dorf eine übliche Abstrafung. „Ich habe mich während der Haft so nach anderen Lebewesen gesehnt, daß ich begann, die Kakerlaken zu füttern“, erinnert sich ein abtrünniges Aum-Mitglied. Wer beim verbotenen Sex erwischt wurde, den fesselten die Sektenmitglieder, um sie oder ihn, die Füßen nach oben, den Kopf nach unten, aufzuhängen, bis das Gesicht blau anlief. Brutal verfuhr der Sektenchef auch mit äußeren Feinden: Rechtsanwalt Tsutsumi Sakamoto, der es noch vor Polizei und Presse gewagt hatte, gegen Aum zu ermitteln, wurde schon 1989 mitsamt seiner Frau und dem einjährigen Sohn von Aum-Mitgliedern umgebracht. Aufgrund der Aussagen der mutmaßlichen Täter konnte die Polizei erst vor wenigen Wochen die Leichenrückstände der Opfer in den japanischen Bergen ausgraben.
Die Aufklärung des Sakamoto- Mordes gab der japanischen Öffentlichkeit in den vergangenen Tagen noch einmal einen Ruck. Das Aum-Drama schien plötzlich wieder faßbar: Da war die 63jährige Mutter Sakamotos, eine unbeugsame Frau, die sechs Jahre lang an die Rückkehr ihres kleinen Enkelkindes geglaubt hatte. Mit ihr begingen 26.000 spontane Trauergäste am vergangenen Sonntag in Yokohama das Begräbnis der dreiköpfigen Familie – Ausdruck des dringenden Bedürfnisses vieler Japaner, über die Solidarität mit den Opfern den Gedanken an die Täter zu verdrängen.
Von diversen Geständnissen Asaharas, welche die Vernehmer dem Sektenführer abgetrotzt hätten, war in den letzten Wochen die Rede – doch der heimliche Wunsch, es mit einem reuigen Angeklagten zu tun zu haben, ging nicht in Erfüllung. Der Oberstaatsanwalt persönlich schritt ein, um alle Gerüchte eines vorliegenden Geständnisses zu dementieren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen