Ein Spitzel ermittelte in Konstanz in der rechten Szene – unter dem Namen eines seit 20 Jahren toten Kindes. Bis ein vermeintlicher Schulkamerad bei der Mutter anrief – das Kind aber hatte das Schulalter nie erreicht. Die Familie ist schockiert, das Landeskriminalamt hält die Methode für wasserdicht Aus Frankfurt Heide Platen

Als Spitzel auferstanden

In der Max-Strohmeyer-Straße in Konstanz herrscht Ordnung. In der Nummer 1 ist schon unten im Hausflur angeschlagen, daß auf Sauberkeit zu achten sei. In dem Viertel, hatte ein Ortskundiger gesagt, „wohnen etliche Rechte“. Im vierten Stock der Nummer 1 ist gerade der Hausflur frisch geputzt worden. Die Fußmatte lehnt an der Tür von C 404 – die Wohnung von Andreas Damköhler. Ein Blumenbote klingelt vergeblich. Damköhler ist verreist, abgehauen, abgetaucht. Genau genommen ist Andreas Damköhler, geboren im Januar 1971 in Stuttgart, seit 20 Jahren tot und in einem Familiengrab in der baden-württembergischen Landeshauptstadt bestattet. Eine kurze Meldung in der „Hildesheimer Allgemeinen Zeitung“ berichtete am 22. April 1974 vom Tod des vierjährigen Jungen. Das Kind war am Vortag bei Elze „gegen 16 Uhr beim Spielen ins Wasser“ der Saale gefallen und ertrunken.

Die Eltern leben in einem kleinen Ort in Niedersachsen. Sie sind am 27. Juli dieses Jahres zum ersten Mal mit der unheimlichen Auferstehung ihres toten Sohnes konfrontiert worden. Da klingelte, erinnert sich die Mutter Evelen Damköhler, das Telefon – ein Anrufer meldete sich als „Fischer“ und wollte „den Andreas“ sprechen. Er stellte sich als „Schulfreund“ vor. Die Frau, deren ältestes von vier Kindern das Schulalter nie erreicht hatte, war entsetzt und verwirrt. Zwei Tage später, an einem Samstag, meldete sich „Fischer“ noch einmal. Frau Damköhler reagierte trotz des Schreckens sachlich und verlangte eine Legitimation. „Fischer“ entschuldigte sich „1.000 Mal“, gab sich als Mitarbeiter einer Wirtschaftsdetektei aus und erklärte ihr, unter dem Namen ihres Sohnes seien Wirtschaftsverbrechen in Rostock verübt worden. Evelen Damköhler: „Da denken sie als Elternteil doch wunder, was auf sie zukommt.“ Sie erzählte dem Anrufer alles über den Tod ihres Sohnes und merkte erst später: „Ich mußte mich irgendwie rechtfertigen, daß mein Sohn tot ist.“ Am Montag darauf kursierten in bundesdeutschen Zeitungen und der Deutschen Presseagentur (dpa) anonyme Faxbriefe, in denen „Andreas Damköhler“ als Spitzel des Landeskriminalamtes (LKA) Baden-Württemberg geoutet wurde.

Das LKA hatte sich schon am Vorabend bei der Familie gemeldet, sie vor eventuell auftauchenden Journalisten gewarnt und seinen Besuch für den nächsten Abend angekündigt. Zwei Beamte informierten die Eltern dann von der gestohlenen Identität und verlangten Stillschweigen. Evelen Damköhler: „Wir haben uns nie dagegengestellt, daß so etwas sein muß, wenn es gegen Terroristen und Bombenleger ist. Aber nicht ohne unser Wissen.“ Und: „Wir hatten richtig Schiß. Wir haben doch noch drei Kinder.“ Schließlich hatte sie den Spitzel durch ihre Auskünfte an „Fischer“ enttarnt.

Die Angst wurde auch durch die Suggestivkraft einer vermeintlich „guten Nachricht“ verstärkt, die ein Beamter des LKA den Damköhlers wenige Tage später überbrachte. Er habe sich von der „örtlichen Rechten“ versichern lassen, daß die keine Anschläge gegen die Familie plane, „weil sie überzeugt seien, daß wir von nichts gewußt haben“. Dann blieb die Familie mit den Nachwirkungen des Falles alleine: „Wir hatten so viele Jahre um unseren Sohn getrauert. Und dann kam das alles wieder hoch. Wir konnten nicht mehr schlafen.“ Sie vertraute sich ihrem Arzt an. Der riet ihr, einen Rechtsanwalt einzuschalten.

„Fischer“ könne nur der 28jährige Neonazi Andreas Sauer aus Konstanz gewesen sein, so hatte das LKA den Damköhlers eröffnet und vermutet: „Da haben Sie mit dem Gehirn der Rechtsextremen gesprochen.“ In Konstanz gilt Sauer als Vordenker der „Nationalen Offensive“ (NO), einer der drei Organisationen, die Innenminister Kanther nach dem Brandanschlag in Mölln verboten hatte. Sauer begann seine neonazistische Karriere als Schüler bei der Jugendorganisation der NPD und wechselte dann zusammen mit anderen in die NO. Er erblindete 1984 nach der Explosion einer von ihm gebastelten Bombe. Seine Gruppe gilt als „zerschlagen“, seit mehrere Mitglieder 1993 wegen Verwüstungen auf einem Friedhof für KZ-Opfer in Überlingen, einem Jüdischen Friedhof in Wangen und Anschlägen auf Asylbewerberheime zu Haftstrafen verurteilt wurden.

Der Fall Damköhler hat seine Parallele in Tübingen. Ab 1991 waren dort zwei beamtete Spitzel in verschiedenen sozial engagierten und linken Gruppen aufgetaucht, schlichen sich bei einer Wohngemeinschaft ein, knüpften persönliche Beziehungen, gewannen Vertrauen und Freunde. Der allzu menschliche Kontakt mit den Opfern wurde für Spitzel „Joachim Armbruster“ zum Stolperstein. Er verliebte sich, seine Freundin wurde schwanger, und er offenbarte ihr seine Doppelidentität. Betroffene trafen sich hinterher, denn „starke Wut“ über enttäuschte, mißbrauchte „Freundschaft und Gastfreundschaft“ mußte verarbeitet werden. Die Verletzungen wirkten in der Szene nach, Freundschaften zerbrachen. Die junge Frau, mit der „Armbruster“ eine Liebesbeziehung eingegangen war, litt an dem Schock, sich „in einen Menschen verliebt“ zu haben, „den es gar nicht gibt“.

Die Betroffenen wandten sich damals an die Öffentlichkeit und verlangten von Landeskriminalamt und Innenministerium eine Entschuldigung. Innenminister Frieder Birzele (SPD) stellte sich denen, die ihm vorwarfen, in seinem Auftrag unrechtmäßig und entwürdigend „bis in die privatesten Bereiche“ ausspioniert worden zu sein. Birzele wies die Vorwürfe brüsk zurück und argumentierte mit den „36 Mordopfern der RAF“. Das Verwaltungsgericht Stuttgart verfügte, daß der flächendeckende Einsatz persönlichkeitsverletzend und rechtswidrig gewesen sei; lediglich ein zielgerichteter Einsatz gegen konkret Verdächtige sei erlaubt. Birzele ordnete den Abzug auch anderer verdeckter Ermittler „zur Bekämpfung des Linksextremismus“ an.

Ausgerechnet auf das Verwaltungsgerichtsurteil von 1992 zugunsten der Tübinger Spitzel-Opfer bezieht sich das vermutlich von Sauer alias Fischer stammende anonyme Fax, das die Presse über den Fall Damköhler informierte: Darin wird die Verletzung der Menschenwürde und ein Verstoß gegen die informelle Selbstbestimmung der Familie Damköhler angeklagt. Sauers zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilten NO-Kameraden waren nicht nur für schwere Körperverletzung, versuchte Brandstiftung und Betrug bestraft worden, sondern auch für die Störung der Totenruhe.

Der Fall Damköhler, „Akte /95“, Montag, 30. 10., 22.15 Uhr, Sat.1