: Poker statt Monopoly
Deutschlands Verkehrsetat ist aus den Fugen geraten: Luftbuchungen sollen Löcher stopfen ■ Von Florian Marten
Erfahrene Monopoly-Spieler lieben Bahnhöfe. Ohne große Investitionen und längst bevor die Mitspieler mit mühseligem Hausbau auf Mieterjagd gehen, erfreut sich der Bahnhofsmonopolist regelmäßiger und satter Einkünfte. Bundesverkehrsminister Matthias Wissmann würde dieser Tage ein zentnerschwerer Stein vom Herzen fallen, hätte die Realität der bundesdeutschen Verkehrsfinanzen nur im entferntesten etwas mit dem stillen Bahnhofsglück des Spieleklassikers gemein. Statt sich am steten Einnahmestrom aus bundeseigenen Bahnimmobilien zu ergötzen, muß Wissmann das Bundeseisenbahnvermögen verscherbeln, nur um die schlimmsten Löcher in seiner Kasse zu stopfen. Allein 1996 soll das staatliche Bundeseisenbahnvermögen Grundstücke für zwei Milliarden Mark losschlagen. Damit nicht genug: „Mittelfristig wird der Bundesverkehrsminister auch eine Veräußerung der im Eigentum des Bundeseisenbahnvermögens stehenden Wohnungsbestandes (rd. 140.000 Wohnungen) prüfen“, verlautet aus seinem Haus.
Ob 1996 ein gutes Jahr ist, sich Geld am Immobilienmarkt zu besorgen? Nicht nur Branchenspezialisten verneinen das. Auch im Bundesverkehrsministerium weiß man um die flaue Bodenkonjunktur. Und der Erlös aus einer anderen Pretiose aus Wissmanns Schatzkästlein ist ebenfalls ungewiß: Die Lufthansa, gerade aus dem Gröbsten heraus, soll über „einen weiteren Privatisierungsschritt“ 1,6 Milliarden Mark bringen, so hofft man in Bonn. Doch die EU stellt sich offenbar einem Börsengang entgegen.
Ein ganz dickes Schnäppchen will Wissmann den Strom- und Telekommunikationskonzernen zuschanzen: Für 700 Millionen Mark soll die Bahn ihr Bahnstromnetz und das mit 41.000 Kilometern Telefonkabel nach der Telekom zweitgrößte Datennetz der Republik an Private abtreten. Die Bahn gründete jedoch flugs eine eigene Kommunikationstochter, die DBkom, und will sich jetzt allenfalls von 49 Prozent der Anteile trennen.
Ausverkauf allein reicht nicht. Eifrig knapst Wissmann an allen großen Verkehrsprojekten: Bahnstrecken werden zeitlich gestreckt, Autobahnen verschlankt, der Wasserstraßenausbau gebremst. Dem flüchtigen Betrachter mag scheinen, Wissmann sei durch die überraschende Sparattacke seines Ministerkollegen Theo Waigel aus dem finanziellen Gleichgewicht gebracht worden. Immerhin hat Waigel beim Bundeshaushalt 1996 teilweise über 20 Prozent der bisherigen Ansätze gestrichen. Und auch Waigels Hauhaltssperre, die jede Investition von mehr als einer Million von der Genehmigung des Finanzministeriums abhängig macht, zielt insbesondere auf Wissmann. Waigels Vorgehen hat offenkundig gemacht, was Insider seit 1992 wissen: Die bundesdeutschen Verkehrsplanungen sind zu einem großen Teil Luftbuchungen und in den Finanzplanungen des Bundes überhaupt nicht abgesichert. Dies gilt für den vom damaligen Verkehrsminister Günther Krause auf den Weg gebrachten Bundesverkehrswegeplan 1992 (BVWP 1992), der mit veranschlagten 500 Milliarden Mark das größte Investitionsvorhaben der deutschen Geschichte ist. Und dies gilt ebenso für die 1993 verabschiedete Bahnreform mit ihrem bis heute nicht genau bezifferbaren Gesamtvolumen von mehreren hundert Milliarden Mark.
Ein Sprecher des Bundesverkehrsministeriums räumt freimütig ein: „Der Bundesverkehrswegeplan ist ein Planungsinstrument und kein Finanzierungsinstrument. Um die notwendigen Mittel müssen wir jedes Haushaltsjahr erneut kämpfen.“ Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit: Die bisherigen Vorgänger des BVWP 1992 waren bislang immer in der mittelfristigen Finanzplanung abgedeckt. Günther Krause hatte die Abweichung von dieser Norm bereits im April 1992 zugegeben: „Eine erhebliche Lücke entsteht im Zeitraum 1995 bis 2005 im Rahmen der Finanzierung mit regulären Haushaltsmitteln.“ Die Lücke ist inzwischen noch gewachsen: Auf 200 Milliarden Mark schätzt sie die Deutsche Straßenliga.
Wie einst Krause läßt Wissmann auf die Projekte nichts kommen: „Kein einziges Großprojekt wird gekippt“, verkündete er trotzig im Sommer vor der Bonner Presse. Ob Transrapid, ob die umstrittenen ICE-Trassen durch den Thüringer Wald und über Ingolstadt, die Anbindung des Köln- Bonner Flughafens oder das Füllhorn der verschiedenen Autobahnprojekte, darunter allein für die 4,7 Milliarden teure Lkw- Schleuder Ostseeautobahn A20 – Wissmann hält an allem fest. Auch den Ausbau der Flüsse und der Flughäfen will er nicht kippen. Allenfalls, so räumte er am 1.September in Binz auf Rügen ein, sei an ein „Straffen und Strecken“ zu denken. Wie das gehen kann, demonstrierte Wissmann gleich mehrfach. Beim Streit zwischen Brandenburg und Berlin über den künftigen Großflughafen schlug sich Wissmann zum Mißfallen von Brandenburgs Regierungschef Manfred Stolpe auf die Seite des Berliner Stadtchefs Eberhard Diepgen und kündigte an, er werde nur das Finanzvolumen für den Ausbau von Berlin-Schönefeld zur Verfügung stellen.
Nach Ausverkauf und Sparen bildet Privatfinanzierung Wissmanns dritten finanziellen Rettungsanker. Geschickt erweckt Wissmann den Eindruck, hier ginge es um die Verbindung von privatwirtschaftlicher Effizienz und der Schonung öffentlicher Ressourcen. Aber an Straßen, für deren Benutzung anschließend bezahlt werden muß, ist überhaupt nicht gedacht. Die deutsche Verkehrseminenz Gerd Aberle, Chef des Wissenschaftlichen Beirats des Bundesverkehrsministeriums, erläutert: „Die bevorzugten Konzessionsmodelle verlagern das wirtschaftliche Risiko auf den Steuerzahler. Die privaten Investoren tragen allein das – gut abschätzbare – Investitionsrisiko. Ansonsten erhalten sie vom Staat jährlich fest vereinbarte Nutzungsentgelte, die neben der Kostendeckung auch Gewinnbestandteile einschließen.“ Auch die Bündnisgrünen lehnen den „Ratenkauf mit Steuergeldern“ grundsätzlich ab und wollen ihn mit allen parlamentarischen und juristischen Mitteln verhindern. Auch der Bundesrechnungshof warnt: „Der Weg der Haushaltskonsolidierung wird mit privaten Vorfinanzierungen nur verlängert, die Tendenz, heute Verträge zu Lasten künftiger Generationen einzugehen, noch verstärkt.“
Banken und Bauindustrie dagegen sind schon jetzt hellauf begeistert: Die auf Betreiben Wissmans geplante private Vorfinanzierung von zwölf Verkehrsprojekten im Gesamtwert von 8,5 Milliarden Mark eröffnet solide Gewinnchancen mit staatlicher Garantie. Einziger Unterschied zur normalen staatlichen Bautätigkeit: Private Unternehmen haben die Bauaufsicht in Generalunternehmerschaft. Und: Der Staat zahlt erst nach Fertigstellung in 10 bis 15 Jahresraten. Das wird, wie der Bundesrechnungshof bemängelte, überaus kostspielig: Die Generalunternehmerschaft bringt Mehrkosten von durchschnittlich 15 Prozent, die Privatkredite sind teurer als die staatliche Kreditaufnahme, und die späte Bezahlung treibt die Gesamtkosten in abenteuerliche Dimensionen. Für die Hoffnung, ein Privater werde billiger bauen, sieht der Rechnungshof keinen Hinweis. Im Gegenteil: Mit der Verschiebung der Bezahlung ins nächste Jahrtausend fielen die letzten Hemmungen – Beamte und Bauindustrie einigten sich vorab fast immer auf Luxusversionen.
Der Bundesverkehrsminister konnte diese Projekte denn auch nur gegen den heftigen Protest von Spitzenbeamten des Finanzministeriums durchsetzen, ein Widerstand, den erst Helmut Kohl und Wolfgang Schäuble durch persönliche Intervention bei Theo Waigel brechen konnten. Den Steuerzahler kommt das teuer. Der Bau der vierten Elbtunnelröhre verteuerte sich von zunächst 480 auf mittlerweile 880 Millionen Mark. Die Gesamtkosten bei privater Vorfinanzierung belaufen sich sogar auf 1,8 Milliarden Mark, die in 15 Jahresraten zu 300 Millionen Mark von 2003 an zu bezahlen sind.
Ähnlich dimensioniert ist die umstrittene ICE-Trasse von Nürnberg über Ingolstadt nach München: Sie ist um Milliarden teurer als die alternative Ausbauvariante über Augsburg: Die 7 Milliarden Mark Baukosten vermehren sich durch Gewinn- und Finanzierungszuschläge auf eine Endsumme von 15,6 Milliarden Mark. Nach einem Gutachten der Münchner Verkehrsberater Vieregg und Rössler, das sie im Auftrag der Bahn erstellt haben, würde die Ausbaustrecke über Augsburg nur höchstens zwei Milliarden Mark kosten und dafür nur 20 Sekunden langsamer sein als die Neubautrasse quer durchs Altmühltal. Albert Schmidt, Bahnexperte der Bündnisgrünen: „Damit werden unsere schlimmsten Erwartungen übertroffen.“
Die Unbezahlbarkeit seiner Pläne dämmert inzwischen offenbar auch dem Bahnvorstand. Wirklich privat finanzierte Verkehrsprojekte tun sich marktwirtschaftlich äußerst schwer. Prominentes Beispiel ist das finanzielle Desaster des Tunnels unter dem Ärmelkanal. Altschulden von bald acht Milliarden Pfund drücken. Die Kanaltunnelgesellschaften mußte jetzt sogar ihre Zinszahlungen einstellen. Bei jährlichen Zinsverpflichtungen von 700 Millionen Pfund – gegenüber Tunnelbetriebskosten von 200 Millionen Pfund – ist das Unternehmen mittlerweile stehend bankrott. Die Einnahmen im Güter- und Passagiergeschäft liegen weit unter Plan. Viele Banken stoßen ihre Eurotunnel-Kredite zur Dumping-Kondition von 65 Prozent des Nennwertes ab. Auch der „echt“ privat finanzierte 23 Milliarden Mark teure neue internationale Großflughafen Kansai auf einer riesigen künstlichen Insel vor Osaka gilt inzwischen als gigantischer Flop. Obwohl dort die höchsten Flughafengebühren der Welt verlangt werden, rechnen Experten, daß sich die Investition frühestens in 50 Jahren rentiert.
Wissmanns Klemme wird sich, allen Tricks zum Trotz, in den nächsten Jahren zuspitzen. Statt sich von Finanzierungsloch zu Finanzierungsloch zu hangeln, müßte, so meinen Verkehrs- und Finanzexperten, die gesamte Projektliste noch einmal durchforstet werden: Neben dem Verzicht auf einige der Projekte wie den Transrapid oder den Ausbau der Donau, könnte die Neukonzeption einiger Infrastrukturvisionen Wissmann und den Steuerzahler entlasten. Verkehrsplaner Karlheinz Rössler hat am Beispiel des 32 Milliarden Mark teuren Planwerks dreier ausgewählter Hochgeschwindigkeitsstrecken (Transrapid Hamburg – Berlin, ICE Frankfurt – Erfurt, ICE München – Berlin) beispielhaft vorgerechnet, wie sich auf einen Schlag 21 Milliarden Mark sparen ließen. Mit Netzergänzung statt radikalem Neubau, dem Einsatz von Zügen in Neigetechnik und der Mitbenutzung vorhandener, unausgelasteter Strecken wäre demnach bereits für 11 Milliarden Mark ein vergleichbarer Verkehrsnutzen zu verwirklichen.
Ob die finanzielle Not zu verkehrspolitischer Vernunft führt? Hoffnungen auf marktwirtschaftlich-kapitalistische Bahnhofsfreuden nach Monopoly-Art scheinen verfrüht. In der Verkehrspolitik gelten andere Spielregeln: In Bonn erzwang die Politlobby von nordrhein-westfälischer SPD und Bundesregierung den von Bundesbahn und Grünen abgelehnten teuren und bahnwirtschaftlich unrentablen ICE-Anschluß des Köln-Bonner Flughafens. Und für die 15,6 Milliarden Mark Kosten der ICE- Trasse über Ingolstadt gibt es mangels verkehrspolitischer und verkehrswirtschaftlicher Argumente wohl einen einzigen wirklichen Grund: Der geplante ICE-Bahnhof Ingolstadt liegt im Wahlkreis von Theo Waigel.
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