Hauptstadtkultur als Chefsache

Bonn Macht Kultur – und die Berliner Szene oszilliert zwischen Warnblinkanlage und Leuchtturmprogramm  ■ Von Ali Schmidt

Kohl untergräbt Berlins Zukunft“ wäre die passende Unterschrift gewesen unter dem Foto des agilen Kanzlers, wie er, kurz vor der Berliner Wahl, mit dem Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) den ersten Spatenstich für das mehr als fragwürdige Tunnelprojekt im Tiergarten tat. Jede Steuermark, die hier vergraben wird, wird für anderes fehlen. Zum Beispiel für eine stärkere finanzielle Beteiligung des Bundes an der Hauptstadtkultur.

Vom Zentralbahnhof zum Zentralfriedhof

Hauptstadt – das ist für Kohl und seine Mannen zuerst ein Auftrag, zu bauen, die Größe des neuen Deutschland sichtbar zu machen: Straßentunnel, Regierungsviertel, Zentralbahnhof. Gekleckert wird woanders, und so mag neben dem Zentralbahnhof ruhig ein kultureller Zentralfriedhof entstehen. Die Spatenstiche dazu tut Kohl nicht selbst. Dafür hat er seine Leute. Staatsminister Anton Pfeifer zum Beispiel ebnet die Bahn für eine Kulturhauptstadt nach seines Meisters Wille: viel Deutsches Historisches Museum, große Oper und ein repräsentativer Platz zum Kränze abwerfen.

„Wir wollen nicht die Berliner Kulturpolitik von Bonn aus machen“, dementiert Pfeifer treuherzig im Berliner Tagesspiegel vom 31.10. 1995. Was man in Berlin längst weiß: daß in aller Stille der Dicke die Berliner Kultur auf seine Weise zur Chefsache gemacht hat. Denn es mag ja viele Kulturzentren in Deutschland geben, so Pfeifer, aber eben nur eine Hauptstadt. Das weiß Kohl und läßt es sich auch ein bißchen was kosten: Ganze 60 Millionen Mark jährlich sollen in den Jahren 1996 bis 1999 aus dem Bundeshaushalt in die Berliner Kultur fließen. Zum Vergleich: Die Stadt Bonn erhält, abgesichert durch eine vertragliche Vereinbarung mit dem Bund, pro Jahr 90 Millionen. Berlin bräuchte das Doppelte an Bundesbeteiligung, um auch nur seine kulturelle Substanz zu sichern. Erst ein nüchterner Kassensturz nach der Regierungsbildung wird vermutlich das ganze Ausmaß des Berliner Finanzdesasters ans Licht bringen: die Verdoppelung der Schulden auf über 40 Milliarden Mark oder mehr. Für viele in der Kulturszene heißt das: Es geht ums Überleben.

Kultur nach Verursacherprinzip?

Aber eine Defizitabdeckung des Berliner Kulturetats kommt für Pfeifer „unter keinen Umständen“ in Frage; es könne sich allenfalls um eine „hauptstadtbedingte Kulturförderung“ handeln. Aus diesem Orakelspruch ist zu schließen: Es gibt eine hauptstadtunbedingte Kultur – die sowieso da ist, mithin auch keiner Bundesförderung bedarf – und eine hauptstadtbedingte, die sozusagen nach dem Verursacherprinzip von der hauptstadtverursachenden Bundesrepublik gefördert werden soll. Was für eine Kultur mag das sein? Die Blasmusik zum Zapfenstreich? Die Operngala für Staatsgäste? Gewiß nicht das Atelier in Hellersdorf. Aber nicht nur im Kanzleramt ist eben unklar, welche kulturelle Bedeutung die Hauptstadt in einem föderalen Bundesstaat hat, der nirgendwo anders als in der Kulturpolitik die Länderhoheit so streng gegen Übergriffe des Staates bewacht und auch angesichts der europäischen Integration daran festhält. Auf Kulturebene bewirkte die föderale Struktur Polyzentralität, regionale Eigenart und kreative Konkurrenz.

Niemand sehnt sich – hoffentlich – nach einem zentralistischen Kulturstaat mit einer alles überstrahlenden Metropole à la France, dennoch sollte sich auch niemand Illusionen darüber machen, daß unsere föderale Struktur natürlich längst „von Mischformen durchsetzt“ ist, wie es Albert Eckert, scheidender Kultursprecher der Bündnisgrünen im Berliner Abgeordnetenhaus, ohne Bedauern charakterisiert. Bund und Länder haben eine Reihe gemeinsamer Kulturinstitutionen gebildet, durch die der Bund seit Jahren bedeutende Kultureinrichtungen mitträgt. Darüber hinaus gab es eine Mitfinanzierung des Bundes sowohl für die Kultur in der „provisorischen Hauptstadt“ Bonn als auch im Nachkriegs-Westberlin. Nicht zuletzt übernahm der Bund dort Pflichten, die sich aus der Auflösung des vormals größten Bundeslandes Preußen ergeben hatten (Stiftung Preußischer Kulturbesitz). Auch Deutsche Oper, Schaubühne am Lehniner Platz, Gropius-Bau, Berliner Festspiele oder die Stiftung Deutsche Kinemathek hätten anders nicht überlebt.

Folgerichtig finanzierte der Bund in den Jahren von 1991 bis 1994 in einem Übergangsprogramm zur „Substanzerhaltung“ im Ostteil der Stadt den kulturellen Übergang ins vereinigte Berlin. Das Unglaubliche und Katastrophale ist jedoch, daß im Anschluß daran kein aktualisiertes und realitätstaugliches Konzept entwickelt wurde.

Austausch statt Leuchtturm

Statt bloßem Pokern um Millionen hätte der Bund für sich klären müssen, was er denn in der veränderten Situation mit einer „Hauptstadtkultur“ eigentlich will. Aber immer wenn's um inhaltliche Kriterien geht, illuminiert die Bundesregierung stereotyp ihr „Leuchtturmprogramm“, während für zahlreiche kleine und große Einrichtungen längst schon die Warnblinkanlage nackte Überlebensangst anzeigt. Leuchtturm meint: Nur Projekte mit großer Strahlkraft nach draußen dürfe und solle der Bund fördern. Doch selbst da ließ man peinliche Lücken: So sollten zwar die Deutsche Staatsoper und die Deutsche Oper vom Bund segensreich bedacht werden, die Berliner Philharmoniker indes hatte man zunächst schlicht vergessen. Erst ab 1997 werden nun auch sie unterstützt.

Die vordringliche Aufgabe einer Hauptstadtkultur besteht nun nicht in leuchtturmhafter Selbstdarstellung, sondern vor allem darin, den internationalen und interregionalen Austausch zu organisieren und zu feiern. Der kulturelle Dialog zwischen Kapitale und „Provinz“, zwischen Deutschland und seinen Nachbarn, zwischen West und Ost ist das eigentliche Gegenmodell zur blöden Selbstbezüglichkeit einer deutschen Repräsentationskultur. Dieser Dialog kennt viele Ebenen und Bühnen: das große Musiktheater ebenso wie die freie Gruppe, das traditionelle Museum ebenso wie die experimentelle Galerie.

Lebendige Debatte statt Exekutive

Ein Paradebeispiel dafür gibt es ja gerade in Berlin: das Haus der Kulturen der Welt. Daß gerade dieses Haus, das beispielhaft (und wirtschaftlich erfolgreich) den lebendigen interkulturellen Dialog inszeniert, dennoch von Jahr zu Jahr ums finanzielle Überleben kämpfen muß, beweist, daß offenbar gerade diese Funktion einer Hauptstadtkultur noch nicht begriffen ist.

Doch eine derartige „Durchführung von Sonderaufgaben im Zusammenhang mit den Auslandsbeziehungen des Bundes“ sieht ein anderer Vertrag als Hauptstadtaufgabe durchaus vor, den der Bund und das Land Nordrhein- Westfalen am 13. Dezember 1989 geschlossen haben – mit Bonn!

Auf Berliner Seite gibt es einen kompetenten und überaus repräsentativen Partner, der nicht nur mithelfen kann, den angemessenen Horizont für die Zukunft der Berliner Kultur abzustecken, sondern konzeptionell und managementmäßig bereits in erhebliche Vorleistung getreten ist: den Rat für die Künste. Mehr als 150 Kulturinstitutionen der Stadt, von den ehrwürdigen bis zu den freien Gruppen, haben sich seit 1994 in einer beispiellosen Initiative vernetzt und führen angesichts der akuten Notlage Verhandlungen mit allen Beteiligten im Bund und in der Stadt, um Berlin „vor weiteren irreparablen Schäden im kul

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turellen Netz zu bewahren“, um ein „aufbaufähiges kulturpolitisches Konzept für die Stadt zu entwickeln“, vor allem aber, um eines nicht zuzulassen: Daß angesichts der leeren Kassen von der Politik die Großen gegen die Kleinen ausgespielt werden, die Hehren gegen die Verqueren, die Museen gegen die Theater oder welch falsche Schlachtordnungen auch immer vorstellbar sind. In zahlreichen Gesprächen vor und hinter den Kulissen wird u.a. die Einrichtung eines Hauptstadt-Kulturfonds vorangetrieben, aus dem von einem unabhängigen Kuratorium ausgewählte Projekte gefördert werden und an dessen Finanzierung sich der Bund mit 70 Prozent beteiligen soll.

Die Bundesregierung scheint diesen Verhandlungspartner zu akzeptieren. Allein mir fehlt der Glaube, daß auf ihrer Seite des Tisches ein Partner sitzt, der wenigstens annähernd begriffen hat, was auf dem Spiel steht, aber auch, welche Chance sich durch eine qualifizierte Zusammenarbeit zwischen Berlin und dem Bund für die Kultur der Hauptstadt bietet.

Allein die Tatsache, daß mit Beginn dieser Legislaturperiode der Kulturausschuß des Bundestages – ohnehin nur ein „Unterausschuß“ – abgeschafft wurde und auch nicht wieder eingesetzt werden soll, verrät, wie diese Regierung die Kulturpolitik des Bundes einordnet: als eine Veranstaltung der Exekutive, die sich fernab parlamentarischer Kontrolle oder gar Initiative in ministerialen Amtsstuben abspielen soll. Und wenn es hoch kommt, wie im Falle Anton Pfeifer, wird die Amtsstube „aufgewertet zur Unterabteilung des Bundeskanzleramtes“ (Tagesspiegel) – eine auf kuriose Weise zutreffende Wortwahl.

Das signalisiert: „Hier läßt der Chef persönlich kochen“, aber eben auch: „Bitte nicht in die Töpfe gucken oder spucken!“ Es riecht nach Nouvelle cuisine Pfälzer Provenienz und nach großdeutscher Provinzialität. Eine lebendige Debatte, womöglich noch mit anschließender Parlamentsentscheidung, ist weder vorgesehen noch erwünscht. Genau die aber kann kein von oben eingesetzter Kulturkommissar ersetzen, selbst wenn er besten Willens wäre.

Ali Schmidt ist MdB und kulturpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion Bündnis 90/ Grüne