: Brutale Ehrlichkeit
■ Inge Jens und Klaus Harpprecht redeten über die Tagebücher Thomas Manns
Nein, es ging nicht um den Stuhlgang des Zauberers. Aber das kann man, neben vielen anderen intimen Einzelheiten aus dem Leben Thomas Manns, nun auch wirklich selbst nachlesen: Bekanntlich liegt sein Tagebuch jetzt vollständig publiziert vor, der zehnte Band erschien erst kürzlich.
Statt dessen sollte sich das Gespräch um das „Verhältnis zwischen Tagebüchern und Biographie“ drehen, als Inge Jens, die Manns Tagebücher herausgab, und Klaus Harpprecht, der eine umfängliche Mann-Biographie verfaßte, sich am Montag abend in den Räumen der Freien Akademie trafen. Allerdings zeigte sich Harpprecht als viel zu höflicher Mensch und viel zu sehr von Inge Jens' tatsächlich bewunderungswürdiger Leistung beeindruckter Forscher, als daß ein Dissens aufkam: Vom Stöbern in seiner Biographie her hätte man doch mehr kritischen Impetus erwartet.
Nur eine Frage brachte den Anflug eines Disputs: Wie kommt es, daß Thomas Mann seine späten Tagebücher nicht wie die vorangegangenen vernichtete, obwohl sie doch von inkriminierenden und intimen Bekenntnissen nur so wimmeln? Die These von Inge Jens: Die Legitimation dazu gab Mann die Erfahrung des Exils. Erst als Repräsentant des antinazistischen Widerstands fühlte sich Thomas Mann berechtigt, sein Leben in allen seinen Facetten aufzubewahren, wobei es ihm im Tagebuch vor allem auf das Miteinander von Politischem und Persönlichem angekommen sei. Klaus Harpprecht betrachtete die „brutale Ehrlichkeit“, mit der Mann auch seine Stuhlgänge notierte, dagegen unter calvinistischer Perspektive: Mann wolle vor sich und der Welt „Rechenschaft ablegen“.
So riß der Abend den Horizont für spätere Thomas-Mann-Forschungen auf. Und wenn das FAZ-Feuilleton weiterhin so für den Sprachzauberer trommelt, wird wohl auch an Forschern kein Mangel sein. Dirk Knipphals
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen