: Ein russischer Himmel voller Pigmente
■ Die Fotomalerei Sergej Lobovikovs ist erstmals in Deutschland zu sehen
Eine Aufnahme wie ,Die Gedanken einer Witwe‘ schaffst du nie“, schrieb ihm 1910 der Fotokritiker Nikolaj Petrov. Während andere Fotografen des Fin de siècle sich zum Ziel setzten, höhere Töchter auf einer sonnendurchfluteten Veranda ins rechte Licht zu rücken, suchte sich Sergej Lobovikov (1870-1941) die einfache Landbevölkerung als Sujet. Die Armut, die Verzweiflung, die Krankheit, auf die er in seiner Heimat Vjatka, dem heutigen Kirov, stieß, verklärte er nicht ästhetisch, sondern schuf mittels malverwandter Techniken melancholisch stimmende Genrebilder. Oft war nur ein Print seiner Bromöl- und Gummidrucke möglich, bei denen er mit dem Pinsel Farbe auf eine speziell bearbeitete Gelatineschicht auftrug. Rund 100 dieser Originale sind jetzt erstmals als komplette Sammlung in Deutschland zu sehen.
Die Retrospektive „Sergej Lobovikov – ein russischer Meister der Kunstfotografie“ kam durch einen wirtschaftlichen Kontakt der BASF-Tochter Wintershall AG zur russischen Gazprom und durch die Zusammenarbeit mit dem Kasseler Kulturamt zustande. Schon 1900 fanden einige von Lobovikovs Fotografien auf der Pariser Weltausstellung Anerkennung. Seine malerischen Techniken, damals durchaus gängig und heute wieder praktiziert, rückten seine Fotografien durch die erzeugten Lichtstimmungen und die gewollte Unschärfe in die Nähe des Impressionismus. Auch in Dresden (1909) und 1910 in Hamburg feierte er große Erfolge. Und noch heute ziehen die Fotografien, oder sollte man besser sagen, die Gemälde, den Betrachter in ihren Bann, und trotzdem wird doch nichts von der verklärten Breitwandepik russischer Bauernbilder vermittelt, auf denen gewöhnlich kerngesunde Landmädel freudig die Sichel schwingen. Lobovikovs Bilder zeigen Menschen, meist Frauen, im Moment, der sie aus dem Geschehen herauslöst. Das Bild „Gedanken einer Witwe“ (1907-1908) etwa, rückt eine hagere Frau in den Vordergrund, die ihren Blick nach hinten auf das unbestellte Feld richtet und sich krampfhaft an einem Büschel Getreide festhält. Die grauschwarzen Gummidrucke setzten Akzente: Scharfe Konturen wie das Profil mit dem dunklen Kopftuch werden durch dichte Pigmentierung hervorgehoben, das Feld im Hintergrund verschwimmt, und der Himmel braut sich dramatisch düster zusammen. Lobovikov bleibt fotografisch und schafft doch eine malerische Wirkung. Die aufgeladensten Stimmungsbilder wie „Die Haushälterin“, das ein kleines erschöpftes Mädchen zeigt oder „Die (kranke) Lehrerin“ entstanden in den Jahren 1907-1910.
Sein Handwerk hatte der Sohn eines Diakons früh gelernt. Nach dem Tod seiner Eltern kam er mit 13 Jahren in die Fotografenlehre. Er verdiente sein Geld noch als Porträtfotograf, als er mit seiner Kunstfotografie längst internationale Anerkennung genoß. Aber als der Erste Weltkrieg ausbricht, entzweit sich auch die Kunstwelt, und die Fotografenvereinigungen, in denen er Ehrenmitglied ist, lösen sich auf.
Lobovikov übersteht die Jahre des Bürgerkriegs mit Fotografien für die Rote Armee. Er greift, da viele Materialien nicht erhältlich sind, auf alte Negative zurück, von denen er Bromöldrucke anfertigt, indem er Farbe auf eine Gelatineschicht aufträgt. 1927 findet unter dem Einfluß Lunatscharskis in Moskau eine große Retrospektive statt. Danach zieht Lobovikov zu seinem Sohn nach Leningrad. Dort stirbt er 1941 durch die Druckwelle einer Fliegerbombe. Christine Lang
Bis 19. November, documenta- Halle, Kassel. Katalog 236 Seiten, mit 212 Abb., 28 DM
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