Gängige Kaschierungsmuster hinterfragt

■ betr.: „Verlogenes aus dem Frei zeitpark“ von Micha Hilgers, taz vom 28./29. 10. 95, „Ein Techno kratenmärchen“ (Zur Kritik der Studie „Zukunftsfähiges Deutsch land“) von Ralf Berger, taz vom 31. 10. 95

Heute habe ich den Beitrag von Ralf Berger gelesen, nicht mit klammheimlicher, sondern mit riesengroßer Freude.

Ich dachte schon, daß solche Kritik – die ich seit 1968 schätzen und lieben gelernt habe und in der ich mich heute noch immer übe! – heutzutage keiner mehr zustande bringt, beziehungsweise daß sie auch kaum jemanden interessiert (außer sicherlich ein paar taz-Leser).

Das Wahlergebnis (Berlin hat links gewählt), solch eine auf die Realitäten ausgerichtete Kritik und deren Veröffentlichung in der taz und die überall zu vernehmenden zu kurz greifenden Ansätze bürgerlicher „normaler“ Kritik lassen in mir für die nächsten Jahre vorsichtig eine zarte Hoffnung aufkommen. Vielleicht bin ich zu uninformiert (vieles spricht dafür), vielleicht formuliert sich zaghaft eine Kraft, an der in den nächsten zehn Jahren dann möglicherweise keiner mehr vorbeikommt. Ich fände das gut. Ulrich Dix, Berlin

Selten sind sie geworden in der taz, leider, solch radikale, konsequent bis zu den Wurzeln gesellschaftlicher Mißstände vordringende Hinterfragungen ihrer gängigen Kaschierungsmuster. Die kritischen Stellungnahmen von M. Hilgers und R. Berger zeigen, einander ergänzend, eindrucksvoll, woran die moderne Industriegesellschaft, gerade auch in unserem Land, krankt: an der ungerechten Verteilung materieller und an der unwahrhaftigen Ausprägung ideeller Werte als deren Voraussetzung.

Denn wie kann, so resümiert R. Berger treffend, eine Studie wie die des Wuppertaler „Instituts für Klima, Energie und Umwelt GmbH“ beanspruchen, „nachhaltige“ Entwicklungen für ein „zukunftsfähiges Deutschland“ aufzuzeigen, wenn sie national wie global zukunftsentscheidende Fragen nach Profitinteressen, Besitz- und Herrschaftsverhältnissen tabuisiert (eine gängige Praxis freilich hierzulande, wo trotz immer krasserer Polarisierung der Gesellschaft in immer mehr Arme und immer mehr Reiche nach wie vor kein offizieller Armutsbericht der Regierung vorliegt und auch die Aufdeckung des immensen Reichtums privater Forschungsinitiative wie vor allem der des Bochumer Politologen E. U. Huster vorbehalten bleibt?) „Marx, wir brauchen dich“ (immer noch!), vergleiche das Buch von Jean Ziegler.

Und wie kann dieser (alle noch so gutgemeinten Zukunftsentwürfe ad absurdum führende) Riß durch die Gesellschaft anders überwunden werden als durch den von M. Hilgers geforderten grundlegenden Wandel der ethnischen Vorzeichen unserer Gesellschaft – vom Haben zum Sein, von der Vergötzung der Dinge („consumo, ergo sum!“) zur Ehrfurcht vor dem Leben, vom blanken Eigen- zum solidarischen Gemeinsinn (der diesen Namen verdient – im Unterschied etwa zu einem „Solidarpakt“, der nach G. Eisenberg und R. Gronemeyer, den Autoren der Studie „Jugend und Gewalt“, zu einem „gigantischen Entsolidarisierungsprojekt“ pervertierte) Gabriele Röwer, Mainz