: Leichenschau als Katalysator, kein Krimi
Der Autor und Regisseur Uwe Mengel plant eine interaktive Performance zum Thema Ost-West in Berlin-Mitte, die später zu einem Hörspiel weiterverarbeitet werden soll: ein multimediales, gesamtdeutsches Psychogramm ■ Von Petra Kohse
Für Leichen interessiert sich Uwe Mengel am meisten. Er schreibt Hörspiele, die Titel tragen wie „Schillers Leiche“ (SFB, 1991) oder zumindest von Männern im Krankenhaus handeln („Magnificat“, Radio Bremen, 1993). Und er macht Performances, bei denen Leichen in Schaufenstern liegen. Das hat er in New York erprobt, und das will er jetzt in Berlin fortführen.
Passenderweise ist Uwe Mengel auch schwarz gekleidet. Und er trinkt schwarzen Tee. Aber das will nichts heißen. Was sein Projekt angeht, ist er überaus optimistisch. Es soll um Ost-West gehen. Und um zweieinhalb Millionen Mark. Es ist ein Projekt für Deutschland, ein Projekt für Berlin. Deswegen ist er nach vielen Jahren in den USA jetzt wieder für einige Monate in der Stadt.
Der 50jährige Autor und Regisseur Uwe Mengel ist gebürtiger Rügener. Aufgewachsen in Gera, hat er in Jena und Ost-Berlin unter anderem Theologie studiert. 1974 ging er in den Westen. Was heißt „ging“ – „Es war eine typische Flucht im Kofferraum“. Aber West-Berlin war nicht seine Stadt. „Für die einen war ich ein Freiheitsheld, die anderen sagten: ,Was willst du hier, bald leben wir hier auch wie in einem KZ.‘“
Mengel zog nach Wien, studierte Regie am Reinhardt-Seminar, lebte in Holland, inszenierte in München – und wohnte wieder in West-Berlin. Das Korsett unergiebiger deutsch-deutscher Auseinandersetzungen ließ sich nicht abschütteln – 1980 siedelte er nach New York über. „Hier ist man Deutscher. Mehr nicht.“
In New York fing der Deutsche an, Performances zu machen. An freien Plätzen, in einem alten Theater, in Galerien. Über eine wurde auch hierzulande berichtet, in der taz und in Theater heute. Im Sommer 1983 lag im Schaufenster der Galerie „Fashion Moda“ in der South Bronx eine junge Schwarze. Eine Tote? Die Passanten starrten durch die Scheibe, manche traten ein. Sie fanden vier weitere Schauspieler vor: den Mörder der Frau, ihre weiße Stiefmutter und andere Angehörige. Man bot ihnen an, Fragen zu stellen. „Viele Besucher entwickeln soviel Eifer, als sei Claire, die ,Frau im Fenster‘, wirklich erschossen worden“, schrieb Ute Buesing damals in der taz.
Heute sagt Uwe Mengel: „Die Idee, eine ähnliche Performance mal in Berlin zu machen, kam sofort nach der Geschichte in der Bronx, aber die Situation hier bot sich für mich nicht an. In New York war die Herausforderung, die weiße Welt und die schwarze Welt zusammenzubringen, wobei wichtig ist, daß das beides ja zunächst einmal amerikanische Welten sind. Mit wem hätte man in Deutschland so etwas machen können? Jetzt ist das anders. Wenn man durch Ost- und durch Westdeutschland reist, wird evident, daß hier zwei deutsche Völker leben, die momentan nicht miteinander können oder nicht miteinander wollen.“
Der Blick auf die Leiche als Katalysator. Angesichts des Unabänderlichen die Veränderbarkeit des Daseins überdenken. Mittlerweile hat Uwe Mengel das Konzept einer Performance erarbeitet, die den Titel „Zweieinhalb Millionen“ trägt. Untertitel: „Woman in the Window, Teil 2“. Eine Adaption und Fortschreibung des New Yorker Projekts mit dem Ziel, diejenigen zum Sprechen zu bringen, die täglich in Berlin aneinander vorbeilaufen.
Als Schauplatz wünscht sich der Regisseur einen Laden in der Rosenthaler Straße. Da fährt die Straßenbahn, die S-Bahn hält in der Nähe, Einheimische und Touristen aus Ost und West kommen vorbei. Der Eintritt wird kostenlos sein, damit weder Hemmschwellen noch Erwartungshaltungen aufgebaut werden.
Die Leute werden eine Leiche in einem Schaufenster sehen, und sie werden eintreten. Sie werden zehn Minuten bleiben oder auch eine Stunde. Sie werden sich nur umschauen oder sich mit den Darstellern unterhalten. Sie werden erfahren, daß es sich bei der Leiche um eine junge Westdeutsche handelt. Im Raum sitzen der Bruder und die ältere Schwester sowie der Mörder, ein Mann aus dem Osten, und dessen Mutter. Die Präsenz des Mörders wird gleich deutlich machen: Dies ist kein Krimi. Es geht um das Warum der Tat, um Täterpsychologie. Die Ausgangsfrage: „Was passiert mit einem Mann aus dem Osten, der irgendwann merkt, daß er sich emotional und ökonomisch verkauft hat?“
Das hat natürlich auch viel mit Soziologie zu tun. Mengels grob umrissener Vorgeschichte zufolge sind zwei ehemals überzeugte DDR-Bürger, die an Westdeutschland nur ökonomisch interessiert sind, an drei Westdeutsche geraten, für die die DDR früher einfach Ausland war. Die zweieinhalb Millionen Mark in Form von Grundstücken und Immobilien gehören der Mutter Ost, die junge Westdeutsche, die in einem Inzestverhältnis mit ihrem Bruder lebt, „verliebt“ sich in den Sohn Ost, um an das Geld zu kommen.
Die Lebensläufe der Figuren sind nur skizziert, mit den Schauspielern wird Mengel die Details und die Psychologie erarbeiten. Einzeln. Es soll keine Geschlossenheit entstehen. Nach dem Mord befragt, wird jeder Darsteller seine Figur gegenüber den Zuschauern verteidigen, wird andere beschuldigen – die Wahrheit ist eine Sache der Blickrichtung.
Die Sozialisation der Darsteller muß der ihrer Rolle natürlich entsprechen, damit „der Mörder antworten kann, wenn er von westdeutschen Besuchern nach dem FDJ-Fahnenappell gefragt wird“. Es ist anzunehmen, daß die Gespräche vom fiktiven Mordfall schnell ins Allgemeine und ins Persönliche wechseln. Die Geschichten der Zuschauer sind Teil der Performance. Dennoch legt Mengel Wert darauf, daß es sich bei „Woman in the Window, Teil 2“ um ein rein künstlerisches Projekt handelt. „Die Leute können anhand der Figuren ihre Geschichte aufarbeiten, aber es ist keine kathartische Unternehmung.“
Die Performance ist – anders als in New York – auch nur der erste Teil von Mengels Projekt. Während der Aufführungen (zwei bis drei Wochen lang fünf Tage die Woche, jeweils drei Stunden am Nachmittag) werden die Gespräche stundenweise mitgeschnitten – Material für ein Hörspiel, für Stimmengewirr oder auch Schweigen, das als „gesamtdeutsches Psychogramm“ funktionieren könnte, hofft Uwe Mengel.
Der SFB, der bereits mehrere Hörspiele von Uwe Mengel produziert hat, finanziert einen Teil von „Zweieinhalb Millionen“. Der Sender übernimmt die Kosten der Hörspielproduktion und sponsert auch die Performance zu etwa einem Fünftel. Und das Künstlerhaus Bethanien will sich mit logistischer Hilfe und der Bereitstellung von Proberäumen an dem für Frühjahr 1996 geplanten Projekt beteiligen.
Doch bevor die Proben beginnen können, müssen über Koproduzenten oder Sponsoren noch etwa 100.000 Mark aufgetrieben werden. Keine Kleinigkeit. Aber Mengel ist guten Mutes: „Aus New York bin ich Schwierigkeiten bei der Kulturfinanzierung gewöhnt.“
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