piwik no script img

Notsalz und Quarzkiessplit

■ Balancekünstler auf vereisten Bürgersteigen, Radwege von Hauswarten zugeschippt

Lissy Lurre* krempelt ihr Hosenbein hoch: „Da, guck mal, ganz dick und ganz blau!“ Die Eisschollen-Landschaft hatte sie nicht davon abhalten können, sich auf ihr Rad zu schwingen. Der Schwung reichte bis zum Checkpoint Charlie und verwandelte sich allhier in eine bizarre Drehschleife mit aufschlagendem Bauchplatscher.

Auch Stefan Strampl* machte eine Blitzkarriere als burlesker Schauspieler im Theater des echten Lebens. In einer der vielen Seitenstraßen, die im Bühnenbild der letzten Tage mittels überfrorener Eis-Dreck-Klumpen zu Ein-Spur- Straßen umgestaltet wurden, kam dem Radler – und das in einer Kurve! – ein Auto entgegen. Strampl notierte innerlich schon sein Testament. Dann fuhr er die Beine aus und bremste mit dampfenden Sohlen. Gerettet.

Lurre, Strampl und tausend andere RadfahrerInnen hatten in den letzten Tagen die Lebensgefahr der Straße wählen müssen. Die Radwege, entschuldigt sich ein Sprecher der Berliner Stadtreinigung BSR, kriegten sie derzeit nicht frei. „Abstumpfendes Material“, profaner Quarzkiessplitt genannt, würde von ihren Trupps zwar auf allen Fahrbahnen, Kreuzungen, Bushaltestellen und Fußgängerüberwegen „aufgebracht“. Wegen der starken Glätte sei jetzt sogar der „kleine Notsalzplan“ eingetreten: Vereiste Kreuzungen der Hauptverkehrsstraßen dürfen mit 25 Gramm Salz pro Quadratmeter durchweicht werden. Doch immer wieder schippten kleinhirnig veranlagte Hauswarte den Schnee vor ihrem Haus einfach auf die nächstliegende Fahrradpiste.

Keine Zuständigkeit empfindet die BSR indes für die tapernden, taumelnden, stolpernden, stürzenden FußgängerInnen. Für die Reinigung der Bürgersteige seien nämlich die Grundeigentümer und ihre Lakaien, die Hausverwalter, verantwortlich, sprich: Jeder hat vor der eigenen Tür zu kehren. „Also niemand“, flucht die junge Mutter Magdalena Mompitz*, die seit zwei Tagen ungefähr die dreifache Zeit wie sonst benötigt, um ihr breitgrinsend im Buggy sitzendes Gör in den Kindergarten zu verschuben. Ute Scheub

* Namen von der Red. geändert

40.000 mal Danke!

40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen