: Arnold Schönberg und das Holocaust-Mahnmal Von Götz Aly
Gut gemeint ist das Gegenteil von gut. Insofern muß es beruhigen, daß der Initiative „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ Grenzen gesetzt wurden. Die Entscheidungen der Jury, der Lea Rosh, Hans Jochen Vogel, Eberhard Jäckel, Walter Jens und andere Engagierte angehörten, sind nicht wegen des Mangels an gutem Willen durchgefallen, sondern aufgrund wenig plausibler Vorgaben.
Die beiden mit dem ersten Preis ausgezeichneten Entwürfe – hie die riesenhafte Grabplatte, dort das stählerne Karree der Vernichtung – legen eine Scheinalternative nahe. So als ginge es darum, entweder an die Todesbürokratie oder an die Toten zu erinnern. Auch war der Ort falsch gewählt – bedeutungslos und viel zu groß. Die pure Beschwörung der Einmaligkeit, Geld- und Immobiliengaben reichen offenbar nicht aus, um an den Holocaust zu erinnern. Mittlerweile greift die Ausrede Platz, es sei die Tat selbst, die sich gegen ein Monument sperre.
Wie verkehrt die Vorgaben der Auslober – Initiative, Bundesregierung und Senat – waren, zeigt ein Beispiel aus der Musik. Es eignet sich als Anregung für einen zweiten Wettbewerb, auch wenn der, das wäre keine Schande, erneut scheitern mag. 1947 schrieb Arnold Schönberg die Kantate „A Survivor from Warsaw“ (für Sprecher, Männerchor und Orchester). Betrachtet man die Länge von nur 99 Takten, so handelt es sich eher um ein Opusculum. „Zu klein“, würde Lea Rosh einwenden. Doch schuf Schönberg mit seinem Opus 46 das Musikmonument für die Opfer des Völkermords.
Der Überlebende hat die Zeit der „Endlösung“ in der Warschauer Kanalisation halb bewußtlos überdauert, berichtet stockend, bruchstückhaft auf Englisch und zitiert einen deutschen Soldaten auf Berlinerisch: „The Feldwebel shouts! ,Achtung! Stilljestanden! Abzählen!‘ They started slowly and irregularly: one, two, three, four, ,Achtung!‘ the sergeant shouted again, ,Rascher! Noch mal von vorne anfangen! In einer Minute will ich wissen, wie viele ich zur Gaskammer abliefere!‘“
Das Tempo der Marschmusik, die Zweiunddreißigstel der Military Drum, die gellenden Befehle der Akteure, Triller, Flatterzungen der Piccoli, die Angst der Zusammengetriebenen beherrschen den Todesappell. Für die Männer, die längst von ihren Frauen, Kindern und Eltern getrennt wurden, gibt es physisch kein Entrinnen. Wieder müssen sie abzählen. Erst langsam, dann schneller, schließlich geradewegs gejagt – bis sie auf einmal, äußerlich unvermittelt, aber schon in der Introduktion angedeutet, das „lange vergessene alte Gebet“ anstimmen: Sch'ma Yisrael! Höre, Israel!
Aus numerierten Objekten werden Subjekte. Die Mörder, ihre schrill-gebrochenen Fanfaren, ihre deutsche Sprache verschwinden jäh. Die Dokumentation des Schreckens mündet in den liturgisch-einheitlichen Rhythmus, in die Ruhe chromatischer Geschlossenheit. Sie endet mit dem Cantus firmus, mit dem hebräisch gesungenen, als Kanon instrumentierten Hymnus an den Einzigen Gott. Der Chor klingt im drittletzten Takt aus, mitten im Text des biblischen Bekenntnisses, mit jener Zeile, die nach Martin Bubers Übersetzung lautet: „Wann du dich legst und wann du dich erhebst.“
Das Stück wurde von einem exilierten österreichischen Musikrevolutionär geschrieben, der in seiner Jugend Wagner verehrt und sich politisch lange als Nationalkonservativer verstanden hatte. Schönberg war 1898 zum Protestantismus, 1933 zurück zum jüdischen Glauben konvertiert. Sein Vater starb in Theresienstadt.
Der „Survivor“ legt die Frage nahe, ob die Berliner Juroren nicht gründlich irrten, als sie gelegentlich ihrer preisrichterlichen Suche nach gemeinsamen Kriterien (am 20. Januar 1995) bürokratisch, ja gedankenlos protokollierten: „Der Verwendung von Symbolen des jüdischen Glaubens ist mit Zurückhaltung zu begegnen, ebenso wird die Verbindung von ,Täterinstrumenten‘ und ,Opfersymbolen‘ bzw. die Vermischung von Begriffen der Opfer und der Täter als höchst bedenklich angesehen.“ Das Ganze sollte nach dem Willen der Veranstalter ohne Worte wirken, da mit Auschwitz „die Dimension sprachlicher Ausdrucksmöglichkeit gesprengt“ sei. Schönbergs Alterswerk belegt das Gegenteil.
Wie sollten diejenigen, die sich dem Berliner Wettbewerb stellten, unter derart fragwürdigen Bedingungen die geforderte „schlüssige Gesamtkonzeptionen“ zuwege bringen? Auch mußten zwei Hektar ödes Bauland jedem Gedanken an den bescheidenen Gebrauch künstlerischer Mittel die Luft nehmen. Der Hang zum Selbstsicher-Gigantischen, zur großen Lösung, zum Eindimensionalen gehört zu den einschlägigen Traditionen der Deutschen. Ebenso die Furcht vor widersprüchlichen Teilwahrheiten.
Schönberg argumentiert auf drei Sprachebenen und wechselt so die Perspektiven. Er geht vom individuellen Schicksal aus und spricht vom namenlosen, millionenfachen Mord. Er deutet an. Er verzichtet auf Erklärung. Er gibt keine Antworten. Er bestreitet, was sich die Mörder zum Ziel gesetzt hatten – die Endgültigkeit der Tat. Hier liegen die besonderen Möglichkeiten und Aufgaben der Künstler. Anders als die Historiker können sie die menschliche Wüste, das Nichts thematisieren – (vielleicht) Hoffnung.
Berlin war das geistige und organisatorische Zentrum des Holocaust. Die Stelle, an der sich die Stadt heute des Verbrechens und der Opfer besinnen sollte, muß auch Leerstelle bleiben. Sie muß zum Fragen nötigen, sich gegen volkspädagogische Routine sperren, gegen eifrige „geschichtliche Aufarbeitung“ (gegen das Vergessen ohnehin). Das kann nicht, wie geplant, auf jener Tabula rasa versucht werden, die der Zweite Weltkrieg hinterließ und die das Ende der innerstädtischen Teilung nun dem Bauboom freigab. Hier muß jeder Versuch klotzig ausfallen – und kalt. Der „Survivor“ von Arnold Schönberg gewinnt seine Kraft eben nicht aus übertriebener Monumentalität, sondern aus der extrem verdichteten, zugleich komplexen Miniatur der Darstellung.
Es geht um Demut. Für ein Mahnmal verlangt die zurückgenommene Form des Ausdrucks jedoch nach einem Ort, einem Rahmen, dessen überragende öffentliche Bedeutung jeden Anschein verdrängender Minimierung ausschließt. Ein solcher Ort liegt 200 Meter nördlich des bislang vorgesehenen Grundstücks. Es ist das Brandenburger Tor. Hier, wo das Selbstverständnis der Stadt oberflächlich intakt blieb, sollte eine Inschrift angebracht werden, die mit Hilfe eines Wettbewerbs, der sich zunächst an die Schriftsteller zu richten hätte, gesucht werden kann.
Ein Text ist kein Monument. Die Inschrift und der Ort wären die Vorgaben. Die Aufgabe der Bildhauer bestünde dann in der vorsichtigen, adäquaten, aber eindringlichen Veränderung des Wahrzeichens selbst – vielleicht sogar im (Teil-)Abbruch einer der zwölf tragenden Säulen.
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