„Und ich verkaufe nicht!“

Seit Jahrzehnten trotzt Reutlingens letzter Weingärtner den Immobilienhaien. Sein Weinberg ist inzwischen längst von Villen umzingelt  ■ Aus Reutlingen Philipp Maußhardt

Die Rebstöcke starben ganz langsam. Erst wickelten sich Winden um den Stamm, kletterten hinauf zu den jungen Trieben, klammerten sich an die grünen Ruten und schnürten sie ein. Dann erstickten die Blätter, später erwürgte der Schmarotzer die Trauben. Schließlich verfärbte sich der ganze Stock und ging ein.

Georg Biedermann hat nicht mehr mit ansehen müssen, wie sein Weinberg verreckte. Der 85jährige Weingärtner liegt seit über einem Jahr selbst im Sterben. Alzheimer hat ihn der Welt entrückt. Seit vielen Monaten liegt er stumm zu Hause im Bett. Vor 16 Monaten gab der Arzt ihm noch 14 Tage zu leben. Aber Biedermann stirbt nicht. Zum Trotz. Alle warten sie doch nur, bis der Sargdeckel fällt und sein Weinberg endlich verkauft wird – der letzte private Weinberg in Reutlingen.

Seit vielen Jahren ist Georg Biedermann umzingelt von Villen. Früher überzogen Weinberge den Hang. „Eine seltsame Rasse“, nannte er die Menschen immer, die hier im Nobelviertel der ehemaligen Weinberg-Stadt ihre Häuser bauten. „Alles Kaufleute, die dem Briefträger kein Trinkgeld geben.“ Die Abneigung war gegenseitig. Manche wechselten sogar den Gehsteig, wenn sie Biedermann kommen sahen, und er kam jeden Tag.

Zusammen mit seiner Frau stieg er den steilen Berg hinauf zu seinem Weinberg, der, hätte er ihn verkauft, schon vor Jahren viel Geld gebracht hätte. Und er hätte ihn oft verkaufen können. Immer wieder klopften Besucher an die Tür seiner Weinberghütte und erkundigten sich. „Ich verkauf' nicht!“, hat Biedermann dann stets böse gesagt. „Fünfmal im Krieg verwundet, beim Sturz vom Baugerüst drei Wirbel gebrochen“, Biedermann zählte auf, wie das Leben ihm zu Leibe rückte und der Weinberg ihn dann wieder aufrichtete. „Ohne ihn wär' ich doch längst schon tot. Was soll ich mit dem vielen Geld?“

In seiner Hütte heizte der alte Mann den Ofen bisweilen auch im Sommer an. Das Klima hier am Georgenberg ist Mensch und Rebstock eigentlich abträglich. „Sauer“, schimpften Durchreisende den heimischen Tropfen und erzählten draußen in der Welt schlimme Dinge: Nach einer Weinzeche habe ein Hotelgast den Wirt gebeten, ihn um Mitternacht im Bett umzudrehen, damit ihm der Wein kein Loch in den Magen ätze. „Lieber noch einmal Belgrad erobern“, soll dereinst Prinz Eugen (1663 bis 1736) seiner Umgebung zugeraunt haben, als er, zu Gast in der Stadt, einen zweiten Schluck nehmen sollte.

Darum empfanden viele den Niedergang des Weinbaus in dieser Region nicht einmal als Verlust. Erst rissen die Weingärtner, „die Wengerter“, die Reben heraus und pflanzten Obstbäume. Dann verkauften sie die Wiesen als Bauplätze. „Wenn früher ein Wengerter krank war“, sagte Biedermann, als er selbst kaum noch arbeiten konnte, „dann haben ihm die anderen die Arbeit abgenommen.“ Heute gibt es keine anderen mehr. Alle haben ihre Parzellen verkauft, weil die harte Arbeit weniger einbrachte, als ein Zehnstundentag in der Fabrik.

Nach dem letzten Krieg griffen nur noch wenige zu Rebschere und Hacke, und Georg Biedermann sah, wie einer nach dem anderen aufgab. Viele seiner 4.000 Rebstöcke hat sein Großvater noch gepflanzt. Weder ein Weinbergschlepper noch eine Vollerntemaschine war hier je im Einsatz. Selbst ein Drahtgerüst befand Biedermann für zu modern, und so stehen seine Reben einzeln und frei, lediglich mit Weidenruten oder Binsen an die dünnen Holzpfähle geheftet. Biedermanns letzte Investition liegt 60 Jahre zurück. 1935 kaufte er einen neuen Butten mit eingeschnitztem Namenszug.

Aufbinden, abbinden: 4.000mal im Jahr löste Biedermann im Herbst die harten Knoten der Weidenruten, drückte die Reben mit Eisenstangen zu Boden, beschwerte sie mit Erde und löste sie im Frühjahr wieder aus ihrem Winterschlaf. Nicht viel anders haben diejenigen gearbeitet, die vor 1.200 Jahren hier mit dem Weinbau begannen.

Jetzt ist endgültig Schluß damit. Dem Untergang des Weinbaus half die Stadt noch nach. Sie luchste den Weingärtnern ihr Land billig ab oder tauschte es gegen ein Baugrundstück in einer Reihenhaussiedlung. „Gauner vom Rathaus“ waren das für Biedermann, die sich bei ihm nicht blicken lassen durften. Einmal kam der Wirtschaftskontrolldienst und bemängelte, daß an seinem Pissoir hinter der Hütte kein Sichtschutz war. Dabei pinkelte Biedermann viel lieber an die Ligusterhecken seiner reichen Nachbarn. Und als die Stadtverwaltung ihm eine Rechnung von 60.000 Mark schickte, als Erschließungsabgabe für Straßen und Kanalisation, da hat er auf Volltrotz geschaltet: „Die wollen nur, daß ich verkaufe. Die können mir den Buckel runterrutschen“, hat er gesagt und gezahlt.

In seiner Hütte auf dem Weinberg trafen sich früher jeden Mittag ein paar Alte zum Wein. Biedermann saß mittendrin und erzählte vom Krieg. Bis ihm seine Frau ins Wort fiel, „Ach Georg, hör doch auf mit den Geschichten.“ Dann schwiegen sie eine zeitlang und tranken, was Lydia Biedermann einschenkte: „Schiller“, wie die Schwaben den hellroten Wein nennen, aus Rebsorten gepreßt, die keiner mehr kennt: Putzscheere oder Hängling.

An jenem letzten Abend, als Biedermann schon merkte, daß es kaum noch geht, hat ihn ein 87jähriger mit dem Auto nach Hause gefahren. Vor dem Weinberg wurden die beiden von einer Nachbarin aufgehalten. „Ach bitte, Herr Biedermann“, sagte die schicke Frau, „brennen Sie doch auf Ihrem Gelände keine Gartenabfälle mehr ab, meine Vorhänge werden sonst schwarz.“ Biedermann hat gelächelt und ist gegangen. Er hat keine Gartenabfälle mehr verbrannt. Er liegt im Bett und stirbt nicht. Die ersten Immobilienhaie waren schon da und haben seine Frau gefragt, ob das Grundstück jetzt endlich verkauft wird. „Nein“, hat seine Frau gesagt, „erst wenn er tot ist.“