Sanssouci: Vorschlag
■ Das Tier im Menschen – Christian Wolz singt am Halleschen Ufer
Phonetik ist eines, Semantik ein anderes. Und beides zusammen ist noch immer nicht Musik. „Asphyxie“ – welch melodisches Wort für den „drohenden Erstickungstod“! Es klingt zu schön für seine Bedeutung, „auch deshalb, weil es dabei nicht, wie man leichtfertig annehmen möchte, in erster Linie um Mord, sondern um Selbstmord geht“, sagt Christian Wolz. Der Berliner Sänger hat seine ganz persönlichen Motive dafür, in die Abgründe dieser Erfahrung einzudringen. Asthma gilt vielen als gegen sich selbst gerichtete Aggression. Und Wolz ist Asthmatiker.
Am Anfang seiner Performance im Theater am Halleschen Ufer zwingt er in die absolute Dunkelheit. Sofort regt sich ein Überlebensinstinkt: Die Suche nach Licht beginnt. Immerhin spiegeln sich die Lichter der Anlage im Lack der Lampe, und unter der Tür dringt ein heller Schein durch. Das macht die Geräuschkulisse weniger bedrohlich. Das ist nicht Singen. Das ist Röcheln und Schreien. Gesungener Krieg. Langsam fällt schwarzes Licht auf den Sänger. Sein weißgeschminktes Gesicht wirkt gespenstisch. Die beiden Mikrophone, die das Licht ebenfalls reflektieren, werden zu metallenen Tentakeln. Das rechte Mikro beschallt den rechten Teil des Raumes, das linke den linken. Kohärente Wahrnehmung soll ausgeschaltet werden. Wolz sucht nach dem Tier im Menschen. Nur in Extremsituationen ist es zu spüren. Das Insekt, der Wurm, die Amphibie – halb Wasser, halb Land. Zurück bleibt der grausame Ton. Nur in einer Überflußgesellschaft wird die Frage nach der Ästhetik der Gewalt gestellt. „Ob wir davonkommen, ohne gefoltert zu werden, ob wir eines natürlichen Todes sterben“, schrieb Marie-Luise Kaschnitz, „steht noch dahin, steht alles noch dahin.“ Das Ende ist unumgänglich. Die Stimme des Sängers, im Erstickungstod allein gelassen, reißt die gespenstische Leere nicht auf.
Wolz, dessen Vorbilder die Musik des Mittelalters und die ebenfalls nicht mit Vokalattacken geizende Diamanda Galas sind, hat mit Kranken gearbeitet. Seine Themen sind Wahnsinn, Aids, Mensch & Maschine, Geburt. Und ein Ende ist nicht in Sicht, „weil die Zivilisation Amok läuft“. Waltraud Schwab
Heute um 23 Uhr, Theater am Halleschen Ufer (32), Kreuzberg
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