Das zweitälteste Gewerbe der Welt boomt

■ Jedes Jahr klauen Taschendiebe acht Millionen Mark. Zwei Drittel der Opfer sind Frauen. Nur drei Prozent der Fälle werden aufgeklärt, und die Diebstähle nehmen zu

Christina Klar staunte nicht schlecht, als sie beim Bezahlen im „Quasimodo“ ihr Portemonnaie zückte und nur einige verwaiste Geldstücke vorfand. Mit 150 Mark war sie von zu Hause weggegangen, hatte zwölf Mark fürs Kino bezahlt, und nun war nur noch etwas Kleingeld übrig. „Das gibt's doch nicht“, stammelte sie und schaute entgeistert in die Runde. Die Kellnerin blickte sie mitleidig an. In den letzten Wochen habe sie wiederholt erlebt, daß Gäste im Lokal um ihre Scheine erleichtert wurden. Zu spät erst ging Klar ein Licht auf. Die beiden Männer, die sich den ganzen Abend an einer Tasse Kaffee am Nebentisch festgehalten, kein Wort miteinander gewechselt und scheinbar unbeteiligt in den Raum geblickt hatten, waren ihr seltsam vorgekommen. Nun waren sie weg. Christina Klar borgte sich das Geld für die Zeche. Anzeige erstattete sie nicht. „Wie soll man die Typen denn finden?“ sagte sie resigniert.

In der Tat werden nur die wenigsten Taschendiebstähle aufgeklärt. Im letzten Jahr waren es nur drei Prozent der angezeigten 21.431 Taschendiebstähle. Seit 1992 haben die Diebstähle pro Jahr um fünfzehn Prozent zugekommen. Für die Abrechnung in diesem Jahr erwartet das Landeskriminalamt eine Steigerung um „gute zwanzig Prozent“. Nach Polizeiangaben sind zwei Drittel der Opfer Frauen.

Taschendiebstahl ist ein Dauerbrenner. Der jährliche Schaden der Langfinger beläuft sich pro Jahr auf etwa acht Millionen Mark. Siebzig Prozent der Taten werden im Westteil der Stadt begangen. Wie eine „kleine Seuche“ breite sich das „zweitälteste Gewerbe der Welt“ aus, so ein Polizeisprecher.

Kein Wunder, denn die Erfolgsaussichten sind äußerst hoch und die Straferwartung dagegen eher gering. Wer erstmals beim Klauen eines Portemonnaies erwischt wird und nicht vorbestraft ist, muß höchstens mit einer kleinen Geldstrafe rechnen. Mehrfachtäter müssen vielleicht beim dritten oder vierten Mal mit einer Haftstrafe rechnen. Doch eine generelle Regelung gibt es nicht. „Richter sind beim Taschendiebstahl strenger als beim Ladendiebstahl“, so ein Mitarbeiter der Justizverwaltung. Eine Statistik über verurteilte Taschendiebe gibt es aber nicht.

Die wenigen Erkenntnisse der Polizei über die Täter lesen sich wie ein Steckbrief. Alter: zwischen 13 und 30 Jahre. Auftreten: fast immer in Dreiergruppen. Herkunft: vorwiegend Rumänien, Jugoslawien und Polen. Geschlecht: halbe-halbe, Frauen und Männer. Arbeitsgebiete: Tauentzienstraße, Breitscheidplatz, Schloßstraße, Alexanderplatz, die Touristen in der Friedrichstraße am Wochenende.

Der Polizei bleibt nichts anderes übrig, als die Bevölkerung auf die Gefahren aufmerksam zu machen, an Infoständen aufzuklären oder Ratschläge zu geben, die Ausdruck ihrer Hilflosigkeit sind: So sollte man die Handtasche im Gedränge unter den Arm klemmen, Geld, Schecks und Kreditkarten in geschlossenen Innentaschen aufbewahren.

Die rühmliche Ausnahme sind die Fälle, in denen „Kommissar Zufall“ einem Bestohlenen zu seinem Geld verhilft. Letzte Woche wurde einer Frau im Bus der Linie 331 in Spandau das Portemonnaie aus der Handtasche gestohlen. Als die 35jährige den Verlust bemerkte, ging sie sofort in eine Sparkassenfiliale in der Altstadt. Wie es der Zufall wollte, befand sich dort auch der Dieb. Die Frau erkannte ihn wieder. Als der Mann in Richtung Marktplatz davonlief, fuhren zufällig zwei Angehörige der Freiwilligen Polizeireserve mit ihrem Streifenwagen vorbei und hörten die Hilferufe der Frau. Sie verfolgten den flüchtenden Dieb zu Fuß und machten ihn dingfest. Barbara Bollwahn