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Japans Sektenboom ist keine vorübergehende Modeerscheinung

■ Seit der Diskreditierung der Kaiserverehrung haben sich unzählige Religionen in der Gesellschaft etablieren können

War der Aum-Terror in diesem Frühjahr nur ein Hinweis auf Japans zukünftige politische Schlachten? Die ganze Welt starrte auf das bis dahin vom Terrorismus weitgehend verschonte Japan, als im März ein hochtrainiertes Sektenkommando auf Anweisung von Aum-Guru Shoko Asahara das Giftgas Sarin in der Tokioter U-Bahn aussetzte und dabei elf Menschen tötete und 5.000 verletzte. Seither redet ganz Japan vom Sektensyndrom, und die Medien überschütten die Öffentlichkeit mit abstrusen Glaubensgeschichten und wohlgemeinten Analysen zum Thema.

Soweit aber herrscht Konsens: Der Sektenboom ist keine vorübergehende Modeerscheinung. Seit der Diskreditierung der Kaiserreligion im Zweiten Weltkrieg haben sich unzählige neue Religionen fest in der japanischen Gesellschaft etablieren können. Die größten von ihnen, darunter Soka Gakkai, nutzten die Jahre des Wirtschaftswunders, um in der entideologisierten urbanen Mittelklasse eine breite Anhängerschaft zu gewinnen. Jüngere Bewegungen wie die Aum-Sekte Asaharas sahen in den achtziger und neunziger Jahren in der moralischen Orientierungslosigkeit der Jugend ihre Chance und rekrutierten mit Video- und Comic-Predigten ihre Gefolgschaft.

Zwischen den einzelnen Gruppen gibt es große Unterschiede: Vom elitären Sektierertum der Aum-Sekte, die sich abgeschieden für den Weltuntergang rüstete, bis zu den alltäglichen Gebeten der Soka-Gakkai-Anhänger, die sich von herkömmlichen buddhistischen Praktiken kaum unterscheiden, ist es ein weiter Weg. Die meisten Gruppen zeichnet ein geschlossenes Weltbild aus, das dem jeweiligen Führer uneingeschränkte Autorität zugesteht. Fragt man Gäste eines von Soka Gakkai arrangierten Gastspiels der Kölner Oper in Tokio, warum sie der Aufführung beiwohnten, lautet die Antwort: „Weil unser Meister Ikeda darum gebeten hat.“

Unheil droht dort, wo Japans Sektenführer Einfluß auf die Politik nehmen wollen. Die Aum- Sekte versuchte zunächst, auf demokratischem Weg Mitglieder in die Parlamente zu entsenden. Erst als der Versuch scheiterte, griff der Guru zu Gewalt. Soka-Gakkai- Führer Ikeda hat einen längeren Atem: Seit 30 Jahren verfügt er durch die Mitglieder der von ihm gegründeten Komei-Partei über ein festes Standbein in der Politik.

Weil die Tokioter Regierung diese Gefahr erkannt hat, will sie noch in dieser Woche ein neues Sektengesetz durchsetzen. So drohen Soka Gakkai nun in Zukunft Kontrollen, ob die drei Milliarden Mark, die die Sekte pro Jahr von ihren Mitgliedern einsammelt, tatsächlich nur für religiöse Aktivitäten ausgegeben werden.

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