Jeanne d'Arcs Kreuzzug

■ Tansu Çillers erfolgreiche neue Selbststilisierung

Die türkische Ministerpräsidentin Tansu Çiller ist von allen guten Geistern verlassen, dafür aber von himmlichen inspiriert. Die Leadsätze eines soeben in der Türkei erschienenen Exklusivinterviews mit ihr: „Die USA wollten nicht die europäische Integration der Türkei. Ich habe ihre Haltung verändert. Ich bin wie Jeanne d'Arc und werde in die Geschichte eingehen.“

Gestern traf Çiller Bundeskanzler Helmut Kohl. Wahrscheinlich hat sie ihm mit Engelszungen geflüstert, daß die Machtergreifung islamistischer Extremisten bevorsteht, falls das Europaparlament nicht der Aufnahme der Türkei in die europäische Zollunion zustimmt. Am 24. Dezember sind Parlamentswahlen in der Türkei. Eine Woche davor – die beste denkbare Wahlhilfe – wird das Europaparlament über die Zollunion abstimmen. Jeanne d'Arc, die mit ihrem Schwert böse Islamisten bekämpft und die Türkei auf den Weg in die Modernität führt.

Die Vorstellung ist ebenso lächerlich wie wagemutig – und effizient. Selbst linke Politiker und Journalisten fallen auf sie rein. Erfolgreich hat Çiller die Streichung eines Halbsatzes in einem Paragraphen des umfangreichen Antiterrorgesetzes als bedeutenden Demokratisierungsfortschritt verkauft. Die sozialistische Fraktion im Europaparlament wird voraussichtlich mit Ja für die Zollunion votieren. Exekution des Deals, den die Wirtschaftsmanager der Europäischen Union mit der türkischen Regierung ausgehandelt haben. Schließlich ist die Zollunion kein Geschenk der Europäer an die Türkei, sondern transportiert handfeste EU- Interessen.

Lug und Trug im gegenseitigem Interesse prägt das Verhältnis EU und Türkei. Eine löbliche Ausnahme sind die europäischen Grünen. Zusammen mit der freien Akademie Bilar, die vom verstorbenen Schriftsteller Aziz Nesin gegründet wurde, organisierten sie vorgestern ein Symposium zu den Beziehungen Europas zur Türkei, wo türkische Befürworter und Gegner der Zollunion zu Wort kamen – Kurden, Islamisten, Liberale und Linke. „Wollt ihr Mitverantwortung an 3.000 politischen Morden tragen?“ fragte der jüngst aus dem Gefängnis entlassene kurdische Abgeordnete Ahmet Türk. Selbst die islamistischen Schreckgespenster waren eingeladen. Und siehe da. Kompetent verwies ein islamistischer Ökonom in seiner akzentuierten Rede auf die Umstruktierungsprobleme der türkischen Wirtschaft nach der Zollunion. Man ist wahrlich kein Türkenfeind, wenn man Jeanne d'Arc keinen Glauben schenkt. Ömer Erzeren