: Clochards frieren – Juppé eiskalt
■ Frankreichs Premier hält an seiner Sozialreform fest, will aber über die Pensionsregelung verhandeln. Clochards stehen vor geschlossenen Métro-Stationen. Die Streiks verschärfen sich: Morgen soll der Flugverkehr stillstehen
Paris (AFP/taz) – Über die Sozialreform „an sich“ läßt Frankreichs Premierminister Alain Juppé nicht mit sich reden. Das, sagte er gestern den Abgeordneten der RPR/UDF-Regierungsfraktion im Parlament, ist „nicht verhandelbar“. Nur bei der geplanten Ruhestandsregelung für Frankreichs Staatsbedienstete, die zur Erlangung der Höchstrente 40 statt bisher 37,5 Jahre lang Beiträge zahlen sollen, sei die Tür für Gespräche offen.
Juppé sprach vor einer für den Abend angesetzten Parlamentsdebatte über ein von den Sozialisten eingebrachtes Mißtrauensvotum. Das kann die Regierung aufgrund ihrer erdrückenden Zweidrittelmehrheit zwar nicht verlieren, Juppé wird dadurch aber gezwungen, entweder eine Kehrtwende zu verkünden oder aber seine unpopulären Pläne öffentlich zu verteidigen. Am liebsten würde er wohl weder das eine noch das andere tun. „Ich habe keine Selbstmordabsichten“, behauptete der Premier vor den Parlamentariern. „Ich bin mutig, aber nicht vermessen.“
Der Streik im öffentlichen Dienst erreichte gestern einen neuen Höhepunkt. Erstmals brach vereinzelt die Stromversorgung zusammen, so in der südfranzösischen Stadt Arles. Zehn der 17 Atomkraftwerke mußten ihre Leistung herunterfahren, von den 8.000 normalerweise pro Tag exportierten Megawatt Strom wurden nur 1.000 geliefert. Gestreikt wurde auch beim Zoll, bei der Télécom, bei der Notenbank und in den Finanzämtern. Zehn Prozent der Lehrer blieben zu Hause, 120 der 135 Postverteilungszentren waren dicht. Der Staatsrundfunk „France Inter“ sendete nur noch ein Notprogramm.
Trotz des Einsatzes von mehr als 700 Privatbussen durch die Regierung staute sich in Paris wieder der Verkehr. Es fuhr keine einzige Métro oder S-Bahn, das Eisenbahnnetz war landesweit lahmgelegt. Auch die Seine-Schiffahrt in Paris mußte wieder eingestellt werden, weil die Schleusenwärter in den Streik traten. Etwa 60 Krankenhäuser und eine größere Zahl von Schulen waren betroffen. Am Donnerstag sollen auch die staatlichen Fluggesellschaften bestreikt werden.
Über 200.000 Menschen beteiligten sich landesweit an Protestmärschen. In Bordeaux, dessen Bürgermeister Alain Juppé heißt, demonstrierten 50.000. In Paris führte Louis Viannet, Generalsekretär der kommunistischen Gewerkschaft CGT, einen Demonstrationszug von vielen zehntausend Menschen. Auch Mitarbeiter der Renault-Autowerke legten die Arbeit nieder, um sich an dem Marsch zu beteiligen.
Der Aufruf der Gewerkschaften, die Streiks auch auf die Privatwirtschaft auszudehnen, wurde nur spärlich befolgt. Eher gibt es hier Kurzarbeit aufgrund des Zusammenbruchs des Transportwesens – so bei Peugeot in Mulhouse, bei Europas größtem Getreideexporteur in der Champagne, bei der Stahl- und Chemieindustrie. Im Baugewerbe gelangt jeder Dritte nicht mehr zu seinem Arbeitsplatz.
Überraschendes Opfer der Streiks in Paris sind die Obdachlosen, von denen sonst bis zu 1.500 in Métro-Stationen leben. Seitdem die Bahnhöfe geschlossen sind, sind die Notunterkünfte überfüllt. Die Regierung hat bisher nur 400 zusätzliche Betten in Nachtasylen zur Verfügung gestellt. Tagesthema auf Seite 3
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