: Angst vor dem Frieden in Bosnien
Die Traumata des Krieges werden sich erst im Frieden wirklich zeigen. Die Menschen fürchten Arbeitslosigkeit, Kriminalität und Korruption. Die Straßen sind unsicher ■ Aus Tuzla Erich Rathfelder
Fikret ist über vierzig Jahre alt. Drei Jahre lang war er Soldat in der bosnischen Armee. Seit voriger Woche ist er wie die meisten Männer seiner Altersgruppe demobilisiert, ins zivile Leben zurückgekehrt. Doch so ganz glücklich ist er damit nicht. „Was soll jetzt aus mir werden?“ fragt er.
Mit seiner fünfköpfigen Familie mußte der ehemalige Schreiner aus einem Dorf in der Nähe der Frontstadt Gradaćać fliehen. Das Dorf liegt zwar laut Abkommen von Dayton auf dem Gebiet der Bosnisch-kroatischen Föderation – Fikret kann also bald in sein Dorf zurückkehren –, doch „ist die gesamte Werkstatt zum Teufel und unser Haus eine Ruine“.
Die Frage Fikrets nach der Zukunft stellen sich jetzt viele Menschen in Bosnien-Herzegowina. Während Fikret selbst immerhin über Landbesitz verfügt, fehlt den meisten, die früher als Industriearbeiter oder Verwaltungsangestellte arbeiteten, jede Perspektive. Während des Krieges wurden die Frauen und die nicht kriegsfähigen Männer weiterbeschäftigt, wenn auch ohne nennenswerte Bezahlung. Mit dem Frieden und der Rückkehr zu „normalen“ Produktionsbedingungen in der Wirtschaft werden die Betriebe jedoch Personal entlassen müssen.
Wenn auch noch die jüngeren Männer aus der Armee ausscheiden, könnte die Arbeitslosigkeit ins Unendliche steigen. Und selbst wenn die Programme der Weltbank und der internationalen Institutionen greifen, wird die Arbeitslosigkeit im von der bosnischen Regierung kontrollierten Gebiet bei 80 Prozent liegen, schätzen Experten. Nur in der von Kroatien unterstützten und von bosnischen Kroaten bewohnten Region Westherzegowina sieht die Lage etwas besser aus. Die Kriegsschäden sind hier, sieht man von Mostar ab, gering. In Teilbereichen florierte die Wirtschaft sogar während des Krieges. Zolleinnahmen und der Handel mit Lebensmitteln und Waffen sicherten immerhin einem Drittel der Bevölkerung auch während des Krieges das Auskommen.
In den serbisch kontrollierten Gebieten dagegen ist die ökonomische Lage vergleichbar mit jener in den bosnisch- muslimischen Regionen. In beiden Gebieten herrschte während des Krieges ein „Kriegskommunismus“. Die Soldaten bekamen zwar kein Geld, jedoch Essen und Zigaretten. Die meisten Familien im serbisch kontrollierten Gebiet leben wie in Zentralbosnien und Sarajevo von der internationalen humanitären Hilfe, die flächendeckend verteilt wurde. Jetzt aber wird auch der Karadžić-Staat seine Soldaten entlassen müssen.
„Im Kriegskommunismus ging es allen gleich schlecht“, erklärte vorige Woche Bogdan F., ein 22jähriger verheirateter Elektrotechnikstudent aus dem Vorort Ilidza, der angesichts seiner Tätigkeit in der Armee sein Studium unterbrechen mußte. „Jetzt sollte ich zurück auf die Schulbank. Wie lange wird es noch humanitäre Hilfe geben? Wer finanziert dann meine Familie?“
Selbst wenn die Bürokratien der internationalen Institutionen so schnell arbeiteten wie nie zuvor, „wird es mehr als ein halbes Jahr dauern, bis die ersten Wirtschaftsprogramme greifen“, erklärt Salvatore Lumbardo, Chef des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) in Tuzla. Die ökonomische Perspektivlosigkeit werde die Kriminalität ansteigen lassen. Schon jetzt gehen viele Menschen aus Angst vor Überfällen nachts nicht mehr auf die Straße. Im zentralbosnischen Nova Bila raubten vor wenigen Tagen vier maskierte Männer 20.000 Mark aus der Kasse eines Hotels, dem einzig florierenden Unternehmen der Stadt. Internationale Hilfsorganisationen warnen ihre Mitarbeiter vor Überlandfahrten während der Nacht. Derartige Fahrten waren trotz Ausgangssperre in der Zeit des Krieges üblich und sogar sicher.
Trotz der in Aussicht gestellten 4.000 Jobs durch die US-amerikanische Armee werden viele Frauen zur offenen Prostitution übergehen, um ihre Familien zu ernähren, befürchtet die Stadtverwaltung in Tuzla. An der Universität wird bereits Aufklärung über Aids angeboten. Fast aussichtslos scheint es, die schon jetzt grassierende Korruption bei Polizei und anderen Staatsdienern zu bekämpfen.
Hinzu kommt, daß das Ausmaß der Traumata des Krieges sich erst im Frieden wirklich offenbart. „Wahrscheinlich mehr als ein Drittel der Kinder und Erwachsenen sind traumatisiert und benötigen dringend psychologische Behandlung“, erklärt Ferida Meyer von der „Gesellschaft für Frieden und Hilfe in Bosnien-Herzegowina“, die sich in Tuzla bisher besonders um vergewaltigte Frauen kümmerte. Rund 200.000 Menschen aller Seiten seien verwundet und zu körperlich Behinderten geworden.
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