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Ein Milchgesicht als Al Capone

Vor 45 Jahren wurde der 18jährige Werner Gladow hingerichtet. Der Gangsterkönig trieb im Schatten der Berlin-Blockade die Polizei zur Verzweiflung  ■ Von Holger Siemann

Am 21. März 1950 säumen Tausende Schaulustige die Elsässer Straße. Ein Polizeikordon auf Motorrädern hält vor dem ehemaligen Reichsbahndirektionsgebäude an der heutigen Torstraße. Zwischen ihnen stoppen zwei dunkelgrün gestrichene Lkw mit Atemschlitzen in der Holzverkleidung. Vierzig Volkspolizisten bewachen den Weg von zehn Männern und einer Frau von der Straße hinauf in den Festsaal des Gebäudes, wo an diesem Tag einer der spektakulärsten Nachkriegsprozesse beginnt.

Angeklagt werden Werner Gladow und zehn seiner Gehilfen, unter ihnen auch Gladows Mutter Lucie. Die Zuschauer sehen auf der Anklagebank überwiegend jugendliche, zum Teil fast noch kindliche Gesichter. Die engsten Freunde Gladows sind zur Zeit des Prozesses zwischen 18 und 26 Jahre alt. 76 Seiten liest Staatsanwalt Stelter vor, zwanzig Punkte enthält die Anklageschrift: schwerer Straßenraub, Raubüberfälle mit Waffengewalt, Mord ...

Doch dem Angeklagten Gladow verdirbt die Aufzählung nicht die gute Laune: Stolz blickt er in die Kameras der zahlreich anwesenden Journalisten. Er weiß, daß der Vorsitzende Richter Dr. Krüger, der einzige Volljurist des Gerichtes, ihn zu höchstens zehn Jahren Jugendgefängnis verurteilen kann. Werner Gladow war erst im Mai 1949, kurz vor seiner Festnahme 18 Jahre alt geworden, für ihn gilt das Reichsjugendgerichtsgesetz. Trotzdem war er der Chef einer Bande von mehr als fünfzig jüngeren und älteren Ganoven, erfolgreicher Organisator von mehr als 127 größeren Straftaten, berühmt-berüchtigt in der Berliner Bevölkerung und bis zur Verzweiflung gehaßt von der West- und insbesondere Ostberliner Polizei.

1945 ist Gladow 14 Jahre alt. Die neue Ordnung ist für ihn ein Spiel der Verlierer, der Erwachsenen. Äußerlich der folgsame Sohn, verläßt er am Morgen pünktlich das Haus und biegt schon hinter der nächsten Ecke vom Schulweg ab. Er läuft zur Stadtmitte, zum Schwarzmarkt auf dem Alexanderplatz, handelt mit Zigaretten, Fleisch, Mehl und Zucker. Klein fängt er an, doch er will Chef werden. Treten oder getreten werden, so hat er es gelernt. Die Bauern, die auf dem Schwarzen Markt Lebensmittel gegen Schmuck und Dollars tauschen wollen, glauben, mit dem Milchgesicht leichtes Spiel zu haben. Doch Werner handelt nicht. Bald gilt er als geschicktester Betrüger der Schwarzhändler. Einer der Gelackmeierten sucht handgreifliche Rache, Werner schlägt zurück – und wird zum ersten Mal verhaftet. Vier Wochen Jugendhaft, beim nächsten Mal acht Wochen, dann ein Vierteljahr. Am Alex und später im Jugendgefängnis Plötzensee lernt Gladow das wahre Verbrechen kennen – und ist begeistert. Er hört mit Spannung den Räuberpistolen der Älteren zu, fragt sie aus, entwickelt Pläne. Als er einen Krimi über den amerikanischen Gangsterboß Al Capone liest, weiß er, wohin sein Weg ihn führen soll.

Mit einem Freund aus dem Knast, der aus den letzten Kriegstagen noch eine Pistole besitzt, macht er im April 1948 ernst. An der Gedächtniskirche schlägt er am hellen Tag das Schaufenster eines Fotoladens ein, schießt dem herbeistürzenden Besitzer ins Knie und verschwindet mit einer Kamera über die Ruinen. Die Polizei im Westen gibt die Täterbeschreibung routinemäßig an den Osten, dort bleibt sie unbeachtet liegen. Denn inzwischen herrscht Eiseskälte in den Beziehungen zwischen Ost und West. Am 24. Juni 1948 blockiert die Sowjetunion die Verkehrswege von und nach Westberlin. Doch die Stadt selbst ist ohne Mauer unteilbar und Gladow nutzt das aus: Er setzt sich nach Raubzügen auf die andere Seite ab, von Ost nach West und zurück. Es ist seine Stadt, er kennt sich aus. Im Oktober überfällt er mit Freunden den Rummel in Prenzlauer Berg mitten im größten Gewühl. Ein Kassierer preßt die Geldtasche an sich – Gladow zögert keine Sekunde und schießt ihm in den Arm.

Gladows Ruhm in Verbrecherkreisen wächst ins Mystische. Zu den zeitweise 60 Mann, die er befehligt, gehören Berufsverbrecher, deren Erfahrungen gepaart mit Gladows Skrupellosigkeit die Bande groß machen. Doch zunächst werden Waffen gebraucht und Gladow hat eine filmreife Idee, die ihm die Ostberliner Volkspolizei nie verzeihen wird.

Eines Abends im November 1948 torkeln drei singende junge Männer auf den Sektorengrenzposten an der Köpenicker Straße zu. Die beiden wachhabenden Volkspolizisten grinsen den vermeintlichen Zechern entgegen – doch plötzlich sehen sie in die Mündung einer Pistole. Sie werden entwaffnet und müssen im Gleichschritt zum nächsten Posten an der Adalbertstraße marschieren. Die dortigen Beamten sind arglos, sehen sie doch Kollegen auf sich zukommen. Auch sie werden entwaffnet. Eine halbe Stunde später nimmt Gladow eine Parade von sechs Polizisten ab und verschwindet lachend.

Mit den erbeuteten Waffen werden Juweliere im Westen und Tauschzentralen im Osten geplündert. Einer der Überfallenen, der das Versteck seiner Wertsachen nicht preisgeben will, wird gefoltert: Gladow hält ihm eine brennende Fackel an die Füße, bis er redet. Wird Gladow verfolgt, zieht er sofort die Pistole: schießen oder erschossen werden.

Von der Beute behält Gladow wenig. Er läßt sich vom Hehler der Bande, Völpel, der in Ostberlin als Scharfrichter arbeitet, über den Tisch ziehen. Was übrig bleibt verteilt er, um seine Stellung in der Bande zu festigen. Er träumt davon, ein Haus zu besitzen, das mit Stahljalousien hermetisch gegen die Welt abgeschlossen werden kann. Er möchte, wie er es bei Al Capone gelesen hat, eine eigene Feuerwehr kommandieren. Der ehemalige Hitlerjunge betreibt sein tödliches Geschäft wie ein kindliches Spiel. Als er bei einem Überfall auf eine Dahlemer Villa die versprochenen 60.000 Westmark nicht finden kann, zieht er glücklich mit ein paar Gläsern Kompott ab.

Doch die Streiche werden immer wilder, und schließlich, nach dem Überfall auf einen Juwelier in der Königstraße, kreisen die Verfolger Gladow am Friedrichshain ein. Fast scheint es, als sei das das Ende, aber ein Trupp jugendlicher Aufbauhelfer, die zu einem Arbeitseinsatz ziehen, wird die Rettung. Für einen Moment kann er zwischen den Jugendlichen untertauchen, und gleich darauf verschwindet er über die Mauer zum Krankenhaus. Russische Militärpolizei durchsucht erfolglos den riesigen Park.

Werner Gladow ist mit 17 Jahren der unbestrittene Boß seiner Gang. Nun plant er das ganz große Ding: Die Gasag-Hauptkasse in der Schicklerstraße soll überfallen werden. Dafür wird ein Auto gebraucht, doch schon dessen Beschaffung geht schief. Wider Erwarten wehrt sich der Chauffeur, Gladow schießt und trifft ihn tödlich.

Auch politisch stehen die Zeichen schlecht: Die Staatsmächte haben sich auf einen Kompromiß geeinigt, am 12. Mai 1949 wird die Berlin-Blockade aufgehoben. Die Ost- und Westberliner Polizei redet wieder miteinander. Indizien werden ausgetauscht, Spuren verglichen. Das Berliner Pflaster wird heiß. Am 3. Juni klingeln zwei Männer, die angeblich vom Arbeitsamt kommen, an der Wohnung in der Schreinerstraße 52. Gladow hat die richtige Nase und schießt sofort. In dem nun ausbrechenden Feuergefecht wird er mehrfach verwundet und fällt mit hohem Blutverlust schließlich in Ohnmacht.

Ein Jahr später ist die Verhandlung. Der Zeitpunkt ist mit Bedacht gewählt: Für Mai 1950 hatte die FDJ zum Deutschlandtreffen nach Berlin geladen. Die geläuterte deutsche Jugend demonstriert Aufbauwillen und Parteitreue. „Vorwärts“ geht die Reise, „der Partei unser Vertrau'n, an der Seite der Genossen woll'n wir heut das Morgen bau'n“. Die blaue Fahne flattert im Wind, und fröhlich klingen die Lieder. Nichts, das an die schreckliche Vergangenheit erinnert, soll mit hinüber in die strahlende Zukunft genommen werden, die Verbrecher, die Trostlosen, Unbelehrbaren, Pessimisten und Ungläubigen müssen ausgemerzt werden. Einer der Mittäter lernt seine Lektion schnell: „Gladow war für mich eben ein kleiner Hitler, dem ich bedingungslos gehorchen mußte.“

Doch der Gutachter, Medizinalrat Weimann, kommt, ebenso wie der Vertreter des Jugendamtes, zu der Überzeugung, daß der kleine Hitler Gladow zwar hochintelligent, aber sittlich keineswegs so reif sei wie ein durchschnittlicher 18jähriger. In seinen naiven Wunschträumen zeige Gladow noch recht kindliche Züge. Anzuwenden sei in jedem Fall das Reichsjugendgerichtsgesetz und nicht, wie das nach § 20 bei besonders frühreifen Jugendlichen möglich sei, das Strafrecht für Erwachsene. Der Verteidiger Dr. Nicolai warnt: „Das Gericht darf nicht den Willen von Organisationen im Urteil zum Ausdruck bringen ...“ Er weist darauf hin, daß der § 20 ein typischer Naziparagraph sei und von gesundem Volksempfinden spreche. Vermutlich ist das auch Ankläger und Richtern klar, aber hier wird das nazistische Erbe noch einmal gebraucht.

Die Anklage hat ihre Vorgaben. Am 8. April 1950, dem Tag der Urteilsverkündung erscheint der Justizminister der DDR höchstselbst im Verhandlungssaal. Oberstaatsanwalt Stelter, der sich im übrigen gleich nach dem Prozeß in den Westen absetzen wird, tönt: „Die Prinzipien der Menschlichkeit gegenüber Tätern, die das Menschenleben nicht achten, sind nicht angebracht.“ Gladow wird zum Tode und zu 142 Jahren Zuchthaus, lebenslangem Zuchthaus und dauerndem Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt. In den Zeitungen erscheinen wie bestellt Leserbriefe, die haßerfüllt dem Urteil zustimmen: „ausrotten“ hieß es da und „ausmerzen“. Der in der Bevölkerung der DDR für weichherzig gehaltene Präsident Pieck zeigt sich bei der Ablehnung des Gnadengesuches hart. Werner Gladow wird am 10. 12. 1950 mit dem Beil hingerichtet.

In der DDR wird der Fall Gladow offiziell „vergessen“, die Ungerechtigkeiten bei der Urteilsfindung sind den „Überwindern“ des Stalinismus peinlich. Die Legende aber lebt, wird weitererzählt und ausgeschmückt. In den Siebzigern dreht Thomas Brasch einen Film über den „Anarchisten“ Gladow. Dann wird es still. Bis heute steht eine Untersuchung der Hintergründe des Urteils aus. Die Generalstaatsanwaltschaft jedenfalls sieht auch 45 Jahre nach der Hinrichtung „kein berechtigtes Interesse“ an einer Aktenfreigabe.

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