: Offener Angriff oder politische Mimikry?
Wie die renommierte Reihe „Propyläen Deutsche Geschichte“ von jungen Rechtsapologeten in den Abgrund geritten wird. Neuestes Beispiel, aber nicht das einzige: Das Dritte Reich aus deutschnationaler Perspektive ■ Von Christian Jansen
Zu berichten ist vom bedauerlichen und folgenreichen Scheitern eines ambitionierten Projektes aus der zur Zeit meinungsführenden deutschen Historikergeneration, die vom deutschnationalen Geist, der bis in die sechziger Jahre die deutsche Histographie geprägt hat, gründlich kuriert ist.
Unter der Federführung von Dieter Groh wurden noch in den sozialliberalen siebziger Jahren Johannes Fried, Hagen Keller, die Brüder Mommsen, Rudolf Vierhaus und andere vom Propyläen Verlag, beauftragt, eine „Geschichte Deutschlands“ zu schreiben. Just als das Projekt sich Mitte der achtziger Jahre in einer Krise befand, weil die Bände nicht in dem vom Verlag angekündigten Rhythmus fertig wurden, wurde dem zu Ullstein gehörenden Propyläen Verlag ein junger Exlinker und mit dem typischen Eifer der Bekehrten agierender Cheflektor vorgesetzt: der hinreichend bekannte Ernst-Nolte-Schüler Rainer Zitelmann.
Drei der von neun auf zehn Bände aufgestockten Reihe zeugen nun von dieser Wende und brechen mit dem ursprünglichen Konzept, eine sozialgeschichtlich geläuterte, postnationale, aber gleichwohl repräsentative Nationalgeschichte schreiben zu lassen. Zuerst ersetzte Zitelmann den Band des säumigen Rudolf Vierhaus durch die Übersetzung eines Buches des US-Historikers James Sheehan. Dieses wurde durch Streichung von über 250 Seiten zum Torso verstümmelt und seines Clous – die Zeit der deutschen Nationbildung 1848–1866 aus einer nichtnationalgeschichtlichen Perspektive zu schreiben – beraubt.
Dann engagierte Zitelmann, nachdem andere Autoren absagten, seinen als Historiker völlig unbekannten, lediglich als nationalkonservativer Publizist hervorgetretenen Freund Karlheinz Weißmann (s. taz v. 5.12.) als Ersatz für Hans Mommsen. Mommsen, Spezialist für die Geschichte des Dritten Reichs, war ebenfalls säumig und bestand zudem auf der Zusage einer Paperback-Ausgabe, zu der der Verlag nicht bereit war.
Schließlich wird seit neuestem ein ursprünglich nicht vorgesehener Band über die deutsche Nachkriegsgeschichte aus der Feder des Politologen Eckhard Jesse angekündigt. Dieser gehört wie Weißmann zusammen mit Enrico Syring, Uwe Backes und Zitelmann zu einem Rezensionskartell, das sich vor allem in der Süddeutschen Zeitung und im Parlament wechselseitig hochjubelt. Wurde die Mogelpackung des verstümmelten Sheehan-Buches noch klaglos hingenommen, so scheint es beim eben erschienenen NS-Band aufgrund des öffentlichen Rummels und der offensichtlichen Unzulänglichkeit des Autors nun Rücksendungen enttäuschter Subskribenten zu hageln.
Im Titel, den einleitenden und abschließenden Teilen eines Werkes pflegen Autoren ihr Programm und ihre Grundthesen darzulegen. Im Untertitel von Weißmanns „Weg in den Abgrund“ steckt einerseits die für das Buch charakteristische Personalisierung. Es ist hitlerzentriert und enthält zahllose Zitate des „Führers“. Andererseits schlägt der Untertitel den larmoyanten Grundakkord an, wie sehr „Deutschland unter Hitler“ gelitten habe, der in der nationalistisch- selbstgerechten Schlußapotheose gipfelt, daß „niemals zuvor ein Volk so hart für die Untaten gebüßt (hat), die es beging oder die doch in seinem Namen begangen wurden“.
Der systematische und industriell organisierte Mord an den europäischen Juden, aber auch die Greueltaten gegen die europäischen Nachbarvölker werden hingegen nur knapp und emotionslos abgehandelt. Die Frage, wie es zu solchen Grausamkeiten kommen konnte, ist Weißmann kein Anliegen. An ihrem Ende steht auch nicht die Reverenz vor den Millionen Opfern, sondern eine Apologie des Hitler-Nachfolgers Dönitz und ein Gejammer über die Kriegsfolgen für Deutschland. Das Kapitel über den Selbstmord Hitlers und das Kriegsende heißt pathetisch „Finis Germaniae“ (Das Ende Deutschlands), ganz so, als hätte nicht die Befreiung von diesem Regime erst das Neuentstehen zivilisierten menschlichen Zusammenlebens ermöglicht.
Der Lehrer präsentiert seinen Zettelkasten
Weißmanns Einleitungssatz „Es gibt nur wenig in der Geschichte, was gleichzeitig so unbestritten und so kontrovers ist wie die Ära des nationalsozialistischen Deutschland“ verrät dann nicht nur stilistische Schwächen: Was will der 36jährige Gymnasiallehrer Weißmann damit aussagen, daß das Dritte Reich „unbestritten“ sei? Bestreitet etwa irgend jemand dessen Existenz? Bereits dieser erste Satz verweist auf die zentrale Schwäche dieses nicht allein für ein Fachpublikum gedachten Buches: Es ist unausgegoren, unentschieden und handwerklich schlecht gemacht. Dies Buch ist nicht die synthetische Leistung, die man von der Reihe (und für den Preis!) erwarten kann, sondern ein zusammengelesenes, an einem Zettelkasten entlang geschriebenes, höchst widersprüchliches Konglomerat. Es lenkt durch viel Unwichtiges, wie etwa die Erörterungen über das Nackttanzen in Berlin, von den zentralen Fragen und großen Themen ab.
Weißmanns Unsicherheit offenbart sich unter anderem darin, daß er die meisten Abschnitte in Zitaten auslaufen läßt, statt zusammenfassend und thesenhaft die ausgebreiteten Fakten zu ordnen und zu erklären. Fatal wirkt seine Unfähigkeit zur Systematisierung etwa im kurzen Kapitel über die „Endlösung“ (den Begriff „Holocaust“ vermeidet Weißmann konsequent). Es endet mit einem langen unkommentierten Zitat aus der Rede Himmlers vor SS-Offizieren in Posen, in der er den Korpsgeist der SS über ihre Beteiligung an der Ausrottung des europäischen Judentums definiert – man sei auch angesichts von Leichenbergen immer „anständig“ geblieben. Zitate sprechen jedoch nicht für sich selbst. Ein Historiker, der sich permanent um Analyse und kritische Kommentierung drückt, öffnet Fehlinterpretationen Tür und Tor. Vollends problematisch wird die Passage dadurch, daß Weißmann hier, ohne sie richtigzustellen, die Desinformation Himmlers transportiert, es seien nur 200 Personen für die Judenvernichtung verantwortlich gewesen.
Ein anderes Indiz für Weißmanns Weigerung oder Unfähigkeit, in den zentralen Kontroversen zum Dritten Reich Position zu beziehen, ist seine Angewohnheit, sich durch die Erwähnung möglichst vieler und gegensätzlichen Richtungen angehörender Fachleute abzusichern. So schafft er es, auf zwei Seiten im Abschnitt „Planung und Eskalation“ (des Zweiten Weltkriegs) in einem Atemzug Wolfgang Michalka, Hans-Adolf Jacobsen, Hermann Rauschning, Alan Bullock, A.J.P. Taylor, Martin Broszat, Hans Mommsen, Klaus Hildebrand, Andreas Hillgruber, Jochen Thies und Dietrich Aigner anzuführen. Die Leser erfahren so zwar von Weißmanns Belesenheit, aber nicht, wo er sich verortet in der eigenartigerweise in diesem Zusammenhang angesprochenen Kontroverse zwischen „Intentionalisten“, die die Verbrechen der Nationalsozialisten aus Hitlers „Weltanschauung“ heraus begründen, und „Funktionalisten“, die sie aus der inneren Logik des Systems und seiner destruktiven Dynamik erklären.
Weißmann verliert sich in der Aufzählung von Details, ihm mißlingt die Scheidung des Wesentlichen vom Peripheren, die Konturen des NS-Staates werden deshalb nicht deutlich. Dies ist wohl eher Unfähigkeit als, wie Götz Aly in der Woche meint, „kompositorischer Revisionismus“. Dieses Buch scheitert nämlich nicht nur über weite Strecken darin, den Lesern den Nationalsozialismus und die Genese seiner Verbrechen zu erklären. Es gelingt dem Autor darüber hinaus noch nicht einmal, sein eigenes Programm historiographisch umzusetzen.
In der Einleitung kündigt Weißmann in der ihm eigenen Unentschiedenheit eine Überwindung des politisch-pädagogischen Gestus der bisherigen Literatur sowie der „Pauschaldistanzierung von der NS-Vergangenheit“ an. In diesem Kontext formuliert er seine einzige klare These, und hier erweist er sich tatsächlich als Rechter und betätigt sich selbst politisch- pädagogisch. Weißmann postuliert, man müsse den Nationalsozialismus als „Epochenphänomen“ sehen. Er sei die „Verwirklichung einer Weltanschauung, die seit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg in den entwickelten europäischen Staaten Anhänger gefunden“ habe. Weißmann hebt hier zwar gleich auf den entscheidenden Unterschied zwischen dem Nationalsozialismus und den faschistischen Strömungen in anderen Ländern ab – nämlich daß diese Ideen nur in Deutschland systematisch realisiert wurden. Doch in seinem ersten Kapitel geht es Weißmann um etwas anderes.
Alles Unheil entsprang den Ideen der Linken
Er charakterisiert die sozialdarwinistischen Tendenzen der europäischen Linken, ihren Nationalismus, ihr Liebäugeln mit eugenischem Gedankengut. Dies alles ist nicht falsch. Übel ist aber Weißmanns Begriff „National-Sozialismen“, mit dem er die außerdeutschen politischen Parteien und Bewegungen charakterisiert, die er als Parallelen zum Nationalsozialismus behandelt. Die auf den ersten Blick als krude Totalitarismustheorie erscheinende Bemerkung in der Einleitung, die nationalsozialistische „Ideologie“ sei der „,Zwilling‘ (François Furet)“ der kommunistischen, offenbart damit eine weit perfidere Ziellinie: Alles Unheil unseres Jahrhunderts entsprang den Ideen der Linken.
Weißmanns Verschwisterung linker Ideologien mit dem Nationalsozialismus ist aber nicht nur politisch perfide, sondern führt auch analytisch in die Irre: Einerseits stilisiert er die ideologisch heterogene NS-Propaganda permanent zu einer geschlossenen Ideologie. Andererseits mutet ihn die „Mischung von staatlicher Intervention im Sinne des ideologischen Totalitarismusanspruchs“ eigenartig an. Diese Mischung ist jedoch gerade ein Merkmal faschistischer Diktaturen und Folge des Fehlens einer Utopie und der lediglich simulierten ideologischen Geschlossenheit.
Weißmanns auf 35 Seiten aufgestellte These vom „Epochenphänomen“ Nationalsozialismus strukturiert jedoch keineswegs seine weitere Darstellung. Sie steht zusammenhanglos am Anfang und wird nicht wiederaufgenommen. Über weite Strecken enthält das Buch dann traditionelle, häufig hinter dem aktuellen Forschungsstand zurückgebliebene, nationalistisch gefärbte Politik- und Kriegsschichte.
Man kann auch hieran vieles monieren: den häufig naiven Umgang mit den Quellen (Weißmann tut zu oft so, als sei er dabeigewesen – ohne die Verstricktheit der Personen, auf deren meist lange nach den Ereignissen geschriebene Erinnerungen er sich stützt, zu problematisieren); die lückenhafte Literaturbasis vor allem zum NS- Terror, während abseitige kriegsgeschichtliche Werke angeführt werden; Weißmanns antipolnische Tendenz; seine auf Hillgruber gestützte Charakterisierung Stalins als indirekten Auslöser des Zweiten Weltkriegs und so weiter.
Auch das Bildlektorat hat sich Weißmanns kruder These vom gesamteuropäischen Phänomen Nationalsozialismus unterworfen und verwendet französische Anti- Dreyfus-Demonstranten oder Bücher der britischen sozialistischen Fabian Society aus der Zeit der Jahrhundertwende zur Illustration eines Buchs über das Dritte Reich. Hingegen kommen die Opfer des Regimes auffällig selten vor. Wo einmal Deutsche beim Morden gezeigt werden, sind es nur „SS und Polizei“ – nicht etwa benennbare, weil bekannte Täter oder die Wehrmacht –, und darunter wird gleich entlastend ein Foto von durch die Sowjetarmee ermordeten polnischen Offizieren gesetzt.
Der Perspektivewechsel in der renommierten Propyläen-Reihe zeigt, daß antiliberale Intellektuelle auf ihrem Marsch durch die Bildungsinstitutionen höchst erfolgreich sind. Wer verhindert, daß in ein paar Jahren – wenn die aktuelle Empörung vergessen ist – die „Geschichte Deutschlands“ in wohlfeilen Sonderausgaben den Buchmarkt überschwemmt und damit Weißmanns Apologie die Kanonisierung zum „Standardwerk“ erfährt, die im Moment ihr hoher Preis verhindert?
Karlheinz Weißmann: „Der Weg in den Abgrund. Deutschland unter Hitler 1933–1945“. Propyläen Deutsche Geschichte Bd. 9, Berlin 1995, 503 Seiten, 248 DM
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