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„Was geht uns Moskau an?“

Im sibirischen Omsk ist vom Wahlkampf wenig zu spüren. Die Menschen schauen auf den Gouverneur. Auch der wird am Sonntag gewählt  ■ Aus Omsk Klaus-Helge Donath

Partija Sewernaja Swesda“ (Partei des Nordsterns) steht an der Tür. Vertritt sie womöglich die Stärkung des russischen Nordens? Denkbar wär's. Schließlich sind wir im sibirischen Omsk. Ein Grüppchen hockt vor einer Wandtafel mit der Skizze des Leninmausoleums in Moskau. Seine vier kubischen Etagen, erläutert ein spindeldürrer Dozent, symbolisieren den zukünftigen Aufbau der russischen Gesellschaft. Eine vierstufige Republik nach dem Vorbild der Wetsche, der altslawischen Volksversammlung. Für Parteien ist in dieser ständischen Ordnung kein Platz. „Bleiben Sie in Rußland, die Welt zerbricht, nur hier sind Sie sicher!“ warnt er den Eindringling. „Nächstes Jahr beginnt die Zeitenwende.“ In Rußland treiben die Gesetze des Kosmos zu ihrer Verwirklichung, meint Dozent Ponomarow. Lenin sei schließlich ein „Gesandter des Heilands auf Erden“ gewesen. Der hagere Fanatiker verkörpert zweifelsohne eine der bizarrsten Inkarnationen des russischen Wunderglaubens, der selbst die weltlicheren Ableger des chauvinistischen Spektrums nicht verschont. Die Verbindung aus orthodoxem Glauben, völkischem Kommunismus und Kosmologie ist jedoch bemerkenswert. Ponomarow ist Mathematiker. Er sagt es nicht, aber wahrscheinlich hat er früher in einer der zahlreichen Rüstungsbetriebe gearbeitet. Maschinenbau und Rüstungsindustrie, die entscheidenden Wirtschaftszweige im riesigen Omsker Verwaltungsgebiet, haben heute schwer zu kämpfen, meint Budkow, rechte Hand des Gebietsgouverneurs, der am Sonntag in Omsk auch zur Wahl steht. Einige Betriebe mußten schließen, andere haben ihre Arbeiter in unbefristeten Urlaub geschickt, heißt es an anderer Stelle. Nach Budkows Version ließ sich aber das Schlimmste abwenden. Der Bergbauingenieur, ein Hüne von Mann, mit Unterarmen vom Durchmesser eines Ölbohrkolbens, taut nur langsam auf. Seine Heimat ist Sibirien. Ihn irritiert das „gesteigerte Interesse“ an der Region in den letzten Tagen. Gouverneur Leonid Poleschajew gehört dem Block „Unser Haus Rußland“ – nasch dom Rossij (NDR) von Premierminister Viktor Tschernomyrdin an. Der Volksmund machte daraus flugs: nasch dom – Gasprom. Gasprom ist der Monopolist im Gasgewerbe, während man Tschernomyrdin, ehemaliger Chef des Giganten, nachsagt, dessen wichtigster Lobbyist zu sein. NDR kann sich als einzige politische Kraft einen kostspieligen Wahlkampf erlauben. In Omsk hängen kaum Plakate, von Wahlkampf ist im Stadtbild nichts zu spüren. Budkow ist mißtrauisch. Er selbst hat die letzten sechs Jahre in einem Ableger des Konzerns gearbeitet. Will hier jemand auf die intimen Beziehungen zwischen Konzern und NDR hinaus? Wettbewerbsverzerrung, Vorteilnahme? Davon war häufiger die Rede, doch es erhitzt die Seelen nicht. Im Gegenteil, das Bedürfnis nach Sicherheit und Stabilität überwiegt. Wenn ein mächtiger Konzern mit einem erfahrenen Piloten die Geschicke in die Hand nimmt, denken viele, schadet es keinem. In dem Buchgeschäft in der Leninstraße gibt der 27jährige Valerij seine Wahlphilosophie preis. Der frisch-fröhliche Mann mit tatarischem Blut der Ureinwohnern dieser Region erzählt dazu gleichnishaft: Jemand rät seinem Freund, einem Kleinunternehmer, er solle Lagerarbeiter Wasja entlassen. Der habe mittlerweile ein Haus, einen schicken Wagen, und beide Kinder studierten. Woher hat er das alles? Von seinem Lohn? Wohl kaum. Also abgezweigt. Der Geschäftsmann winkt ab: „Er hat erreicht, was er wollte! Hole ich jemand Neues, geht die Klauerei von vorne los!“ Deshalb, so Valerij, stimme er für Tschernomyrdin, der sei satt. Kämen die Kommunisten ran, würde ein Raubzug sondergleichen beginnen. Moral ist relativ, aber die Spezifika des Verständnisses von Gerechtigkeit in Rußland sind sehr konkret. Wie Valerij denken viele. Überhaupt scheint diese Stadt ein ungewohnter Rhythmus zu bewegen. Eine Mischung aus Pragmatismus und Selbstgewißheit ihrer Bürger. Selbstverständlich wird gemeckert, aber ohne Hysterie und ideologische Ausschließlichkeit. Wo sind die keifenden Alten, die in Moskau die Atmosphäre verunreinigen? Alexander Kuschnarjew, Leiter der regionalen Wahlkommission, ist auch ein Typ besonderen Schlages. Er charakterisiert die Sibiriaken als „sehr häusliche, familiäre“ Menschen, die es nicht lieben, öffentlich aufzutreten und große Reden zu schwingen. „Unsere Vorfahren waren keine gewöhnlichen Leute“, sagt er stolz, „Banditen, Ganoven, Verbannte oder Idealisten.“ Sie alle hätten einen ausgeprägten Sinn fürs Individuelle gehabt. „Meine Vorfahren kamen auch in Ketten hierher.“ Man sei mehr seines eigenen Glückes Schmied. Im vergangenen Jahr habe keine Demonstration stattgefunden, obwohl die soziale Lage angespannt ist. Die letzte Erhebung weist für den Oblast Omsk eine Arbeitslosenrate von 1,6 Prozent aus. „Offiziell“, gesteht Kuschnarjew, „in Wahrheit liegt sie zehnmal höher.“ Eines seiner vier Telefone klingelt. „Entschuldigung, Moskau“, sagt er. Wie in alten Zeiten steht die „Wertuschka“ auf dem Tisch, eine direkte Linie ins Zentrum. Doch das Handy liegt schon daneben, ein Zeichen von Beweglichkeit und Selbständigkeit.

Die Ansätze von Separatismus, die weite Teile Sibiriens in den ersten Jahren nach dem Ende der UdSSR erfaßt hatten, haben sich gelegt. Neunzehn Gebiete und Regionen, vom Erdölgebiet Tjumen bis ins ostsibirische Krasnojarsk, schlossen sich im „Sibirischen Abkommen“ zusammen. Im Herbst letzten Jahres lehnte deren Koordinationsrat den Entwurf, der eine Abkoppelung von Moskau bedeutet hätte, endgültig ab. Man verzichtete aber nicht auf weitgehende Selbständigkeit gegenüber dem Zentrum. Budkow weist Spekulationen, Sibirien könnte doch noch mit derlei Gedanken spielen, entschieden zurück. Ihm bleibt auch gar nichts anderes übrig. Doch er wandelt auf schmalem Grat. Die Omsker Bürger pflegen ihren „Lokalpatriotismus“. Im neuen Kaufhaus, einem gewaltigen roten Klinkerbau, nennen Kunden und Angestellte spontan „ihren Kandidaten“. Fast ausnahmslos für die Gouverneurswahlen. Die Dumawahlen interessieren sie nur beiläufig. „Hier wird die Musik gemacht, was geht uns Moskau an?“ meint eine Verkäuferin. Moskau, das sei ein riesiger „bardak“ – ein Freudenhaus, wirft eine andere ungeniert ein. Die Distanz zur 2.000 Kilometer fernen Hauptstadt setzt sich in den Köpfen fort. Doch sei man trotz allem Patriot. Auf dem Markt und in den Geschäften werden Waren und Lebenmittel angeboten, alle aus heimischer Produktion. Dergleichen findet man im europäischen Teil Rußlands kaum noch. Moskau und Petersburg leben zu siebzig Prozent vom Import. Das Omsker Gebiet konnte sich immer selbst ernähren. Die Dörfer stellten ein reales Gegengewicht zur industrialisierten Stadt dar. Die Preise sind erschwinglich, Lebensmittel viel billiger als anderswo, selbst Südfrüchte nicht überteuert. Benzin gibt es nirgends so günstig wie hier.

Draußen herrschen zwanzig Grad Frost. Die Händler auf dem Markt bauen in der Morgendämmerung gegen neun Uhr ihre Stände auf. Der Tag ist kurz, gerade mal sieben Stunden. Die Menschen sprühen zwar nicht vor Begeisterung, aber sie sind auch nicht frustiert. Viele wollen ihre Stimme dem amtierenden Gouverneur geben. „Kein vernünftiger Mensch hält eine Kutsche im Galopp an“, sagt eine Frau.

Der Verwaltung rechnet man es hoch an, daß mit der Frostperiode das Heizungssystem funktioniert und die Wasserleitungen nicht bersten. Überhaupt macht die Stadt einen respektierlichen Eindruck. Im Vergleich zu früher, seien die Straßen dreckig, heißt es zwar. Doch von den öffentlichen Gebäuden aus der Jahrhundertwende bröckelt kein Putz, ihr letzter Anstrich liegt nicht Jahre zurück.

Doch es gibt auch andere Stimmen. Die Kommunisten haben im Politischen Zentrum der Stadt einen kleinen Raum gemietet. Vier Rentner sitzen da. In der Ecke steht Lenins Gipsbüste, seine Werke stapeln sich ungeordnet in den angenagten Schränken. Die alte Sekretärin vereinbart noch die letzten Wahlkampftermine: „Glaubst du, nach dem 17. Dezember werden wir keine volksfeindliche Regierung mehr haben? Bist du naiv!“ weist sie ihren Gesprächspartner telefonisch zurecht. Sie ist freundlich und zuvorkommend. Anders als der Veteran, der sich an Zeitungen zu schaffen macht „für sein Veteranentreffen morgen“. Er ist zunächst vergnatzt, möchte nicht reden. Doch dann taut er auf. Er diente als Offizier der Roten Armee: „Früher konnte ich von der Rente mit meiner Frau nach Moskau fliegen“, rechnet er auf, „und es blieben immer noch hundert Rubel übrig!“ Jetzt könne er sich nichts mehr erlauben. Gibt es noch viele Aktive in der Partei? Er kennt die Zahlen nicht und ist ängstlich, nicht einmal seinen Namen mag er preisgeben. Wen fürchtet er eigentlich? Die Harvard-Universität in den USA habe kürzlich eine Studie veröffentlicht, erzählt er. Derzufolge gebe es in Omsk noch 7.000 Parteimitglieder. Ist die KP so weit auf den Hund gekommen, daß sie sich beim Klassenfeind über ihren Mitgliederstamm informieren muß? Nostalgie treibt den Alten um, er kommt mit der neuen Zeit nicht zurecht. Ähnliche Gefühle hegten auch die Arbeiter einiger Rüstungsbetriebe, meint der Pressechef des Gebietsparlaments. Doch sie würden ihre Stimme eher General Lebed und dem „Kongreß der russischen Gemeinden“ geben. „Früher waren wir alle Patrioten“, kommentiert Kuschnarjew die neuen Tendenzen, „heute sprießen noch bessere Patrioten aus dem Boden. Gibt es so was?“ fragt er ironisch. Omsk jedenfalls bleibe pragmatisch ...

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