: Wollen und Sollen 1996
Sie fürchten Polizei und Bafög-Schulden, fahren nach Amerika oder in die Türkei und sehnen sich nach der großen oder kleinen Liebe – Kinder und Jugendliche in Deutschland
Anne Blöss, 15, Schülerin: Ich werde im nächsten Jahr in den USA in einer Gastfamilie leben. Da geh ich dann auch zur Schule. Ich will vor allem die Sprache richtig lernen. Außerdem will ich sehen, wie das ist, alleine klarzukommen. Natürlich freu ich mich auf das Austauschjahr. Aber ich hab auch totale Angst davor. Hoffentlich komme ich in eine gute Familie, hoffentlich kann ich mit denen überhaupt reden, hoffentlich versteh' ich die. Verliebt bin ich zur Zeit nicht. Ich warte noch auf den Richtigen. Groß und schlank soll er sein und blond. Aber ich steh' nicht so auf die Normalfrisur: Er sollte ganz kurze Stoppelhaare haben oder ganz lange. Außerdem sollte er nicht zu sensibel sein. Vielleicht find ich ja einen in Amerika.Foto: privat
Selcuk Yildrim, 17, Schüler: Noch bin ich in der Schule. Und eigentlich will ich eine Ausbildung als Trockenbaumonteur machen. Aber bei mir gab es ein paar Konflikte mit den Bullen. Da hat mich jemand verpfiffen, obwohl ich es nicht war. Nur beweisen kann ich das nicht.
Jetzt will ich erst mal meine Probleme beseitigen, alles auf die Reihe kriegen. Die Polizei hat mir schon gedroht, daß ich in den Knast komme.
Ich muß auf meinen Gerichtstermin warten. Anfangs hatte ich davor ziemlichen Schiß, aber inzwischen hab' ich Erfahrungen und Mut gesammelt. Ich weiß einfach, daß ich es nicht war. Und das reicht mir. Auch wenn ich in den Knast kommen sollte, ist mir das egal. Hauptsache, ich weiß, daß ich ein sauberer Mensch bin. Die Bullen können von mir aus denken, ich sei der größte Junkie auf dieser Erde.
Foto: Marco Limberg
Sappho Ninife Wohlgemuth, 9, Montessori-Schülerin: Ich hoffe, daß die schwere Zeit bald vorbei ist und daß Gabriel mir antwortet. Vor drei Wochen habe ich ihm einen Liebesbrief geschickt. Das war mein erster. „Ich finde, daß Du der schönste Junge der Schule bist. Ich bin in Dich verliebt. Bitte sag mir, warum Du auf der Klassenfahrt so traurig gewesen bist.“ Bisher hab' ich noch keine Antwort bekommen. Noch fühle ich mich okay damit. Aber wenn die anderen mitkriegen, daß ich ihm geschrieben habe, bin ich unten durch. Alle fliegen auf Gabriel. Mindestens sechs Mädchen in meiner Klasse lieben ihn. Er sieht so schön aus, blondes kurzes Haar, blaue Augen. Und er lacht so witzig. Hoffentlich küßt er mich mal. Aber nicht auf dem Schulhof, wo alle zugucken.
Außerdem muß ich nächstes Jahr in Mathe besser werden. Da schreib ich die Sechs immer wie eine Null. Das geht nicht.
Mein Bruder wird nächstes Jahr aufpassen müssen, daß ich ihn nicht endlich mal aus dem Fenster schmeiße. Der ärgert mich. Immer soll ich Staub putzen und Pflanzen gießen oder mit dem Hund rausgehen.
Aber wie ich uns kenne, kriegen wir auch dieses Jahr wieder rum.
Foto: Harald Klenk
Serif Yildin, 18, Schüler: 1996 mache ich das gleiche wie 1995: Spaß haben, Mädchen und Feiern. Nur mit den Mädchen wird es immer schwieriger. Die wollen immer gleich die dicke Liebe …Foto: Marco Limberg
Anja Engelmoor, 16, Schülerin und im Bundesvorstand der Jungen Grünen: Ich wünsch' mir, daß dieses Machtstreben aufhört. Letztlich kriegst du das ja schon in der Schule beigebracht: Jeder muß gucken, daß er irgendwie durchs Leben kommt. Diese Ellenbogengesellschaft find' ich widerlich. Jeder sollte ein bißchen mehr auf den anderen achten und nicht so egoistisch sein. Neben der Schule interessier' ich mich am meisten für Politik. Deshalb arbeite ich auch beim grün-alternativen Jugendbündnis mit. Nach der Schule will ich studieren. Und nach meinem Studium möchte ich nicht mit riesigen Schuldenbergen dastehen. Deshalb hoffe ich, daß die Politiker nicht doch noch diese Bafög- Zinsen beschließen. Außerdem hoffe ich, daß es in Bosnien wirklich Frieden gibt.
Meinen Freund hab' ich über die Politik kennengelernt. Er wohnt in Hannover und ich in München. Das ist ganz schön problematisch. Aber nächstes Jahr will ich nach Norddeutschland ziehen und dort allein leben. Das liegt in erster Linie an der Politik hier – ich will einfach weg aus Schwarz-Deutschland. Ich bin zwar noch nicht ganz volljährig, aber das soll so ein erster großer Schritt in die Selbständigkeit sein. Mit meinen Eltern versteh' ich mich sehr gut. Begeistert sind sie zwar nicht, aber sie werden es mir erlauben und mich auch finanziell unterstützen. Ich denke, ich bin ein recht behütetes Einzelkind. Vielleicht bin ich ja frühreif. Aber jetzt will ich es einfach mal wissen. Ich möchte wissen, ob ich auf mich selbst gestellt sein kann.Foto: privat
Laura Weidinger, 5, Kindergartenkind: Möchte 'nen Engel im Goldkleid mit roten Punkten sehen.Foto:
privat
Anonym*, 16, Lehrling: Seit sechs Monaten habe ich eine Stammfreundin. Ich bin verliebt. Sonst bin ich eigentlich überall schlecht. In Mathe zum Beispiel. Seit einem halben Jahr mache ich die Ausbildung zum Gas- und Wasserinstallateur. Das geht von der Jugendhilfe aus. Da biegen wir Rohre, lernen Mathe und Technologie. Mein Traumjob ist das nicht, später mal Klos zu installieren. Aber ich will nun einmal Kohle haben, eine geile Frau und eine Familie gründen.
Da kann ich mir keinen Streß mehr mit der Polizei erlauben. Mich hat man wegen Plakatekleben am Wickel, PKK- Plakate. Außerdem Körperverletzungen und Messergeschichten. Drei, vier Prozesse liegen noch vor mir. Wegen der sexuellen Nötigung können die mir allerdings nichts nachweisen. Wird schon ein hartes Jahr. Aber ich komme überall raus. Ich bin ein harter Mensch.Foto: Marco Limberg
Veysel Koyuncu, 18, Lehrling im Einzelhandel: Ich wünsche mir, daß Freundschaften wieder so werden wie früher mal. Zwanzig Freunde waren wir. Jetzt sind es nur noch Zweiergruppen. Einige haben ihren Führerschein gemacht und sind nur noch mit ihrem neuen Wagen unterwegs, andere haben sich Mädchen geangelt. Früher waren wir alle Brüder. Wir haben uns immer geholfen, wenn es Probleme mit den Eltern gab oder beim Renovieren. Heute ist jeder wie ein Kühlschrank. Ob ich dieses Jahr in mein Vaterland fahre, weiß ich noch nicht. Ein paar Idioten stempeln mich in der Türkei als Deutschländer ab. Das tut weh. Außerdem verletzt es mich, von den eigenen Leuten verarscht zu werden. Sachen, die in der Türkei fünf Mark kosten, wollten die mir für 50 Mark andrehen.
Seit vier Monaten erfahre ich außerdem, was Liebe ist. Früher kannte ich die Liebe nur aus Filmen. An Hochzeit denk' ich allerdings noch nicht. Ich will erst mal meine Ziele verwirklichen: Meine dreijährige Ausbildung, die Armeezeit – ich muß völlig frei sein, erst dann kann ich ans Heiraten denken.Foto: Rolf Zöllner
Peter König, 21, malt und schreibt: Für das Jahr 1996 wünsche ich mir eine ungebrochene Resistenz gegen Aberglauben jeglicher Art, eine günstige Planetenkonstellation, persönlichen Reichtum und den Weltfrieden.
Im Januar könnte das Spannungsfeld, das der momentanen Konstellation von Mars und Jupiter innewohnt, zu einem baldigen Bruch der leidigen guten Vorsätze führen. Der Februar bringt vermutlich turbulenten Trubel mit sich. Bleibt mir nur zu wünschen, daß der Karneval in Bremen tatsächlich ein so stiefmütterlich behandeltes Kind ist, wie man mir als Neubürger versichert hat. Eine freudige Begegnung steht dann wahrscheinlich im März ins Haus. Woher wissen die Sterne, über welches Wiedersehen ich mich freuen werde? Der April ist dann wie üblich die Zeit der Liebe und der Frühlingsgefühle, die Säfte steigen wieder. Der Mai wartet möglicherweise mit beruflichen Fortschritten auf, wäre toll, wenn das bedeutet, daß ich die Aufnahmeprüfung an der Bremer Kunstakademie schaffen könnte. Der Juni ist voraussichtlich überschattet von gesundheitlichen Problemen (Jahrhundertsommer, Ozonloch, Sommersmogverordnung usf.). Im Juli steht dann der Erfolg an: Möglicherweise kauft mir mal jemand ein Bild ab. Und dann würde ich mich freuen, wenn ich auch 1996 im August Geburtstag hätte. Im September sollte ich allzulange aufgeschobene Angelegenheiten endlich in die Hand nehmen. Der für den Oktober drohende schmerzliche Verlust ist hoffentlich ein materieller, den die Versicherung übernimmt. Und im November schafft dann eine ausgeprägte kreative Phase vielleicht Ausgleich.
Sollte bis dahin doch alles schiefgegangen sein, so könnte mir noch der Dezember Glück bringen: Vielleicht gewinne ich im Lotto und kaufe mir ein vergammeltes Schloß in Südfrankreich, auf dessen Terrasse meine Freundinnen, Freunde und ich dann nächtelang sitzen, Rotwein trinken und einen Haufen Unsinn erzählen.Abb.: Selbstbildnis
*Name ist der Redaktion bekannt
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