: Kleiner Kick für einen Kreativen
Ein Gedrängehalb startet durch: Kay Kocher (SC Neuenheim) spielt heute in Uruguay als erster Deutscher in der Rugby-Weltauswahl ■ Von Günter Rohrbacher-List
Eigentlich steckt Kay Kocher (26) mitten in Klausurvorbereitungen. Es ist das letzte Semester des Studenten vor dem Diplom als Bau-Ingenieur an der Universität Karlsruhe. Doch wenn die Fédération Internationale de Rugby Amateur (FIRA) ruft, müssen am Heidelberger Neckarstrand die Lerneinheiten neu verteilt werden. Schließlich ist der Gedrängehalb des Deutschen Meisters SC Neuenheim der erste Deutsche, der die FIRA-Weltauswahl verstärken darf.
Noch wenige Tage vor der großen Reise war Kocher nur schwer erreichbar, büffelte mit Kommilitonen für die bevorstehenden Prüfungen. Das Visum für das sommerliche Traumziel Punta del Este in Uruguay kam gerade vier Tage vor dem Abflug. Wäre Kay Kocher Fußballer, er hätte wohl nur zum Frankfurter Flughafen zu kommen brauchen. Doch für Kocher ist „nicht Fußball, sondern Rugby die schönste Nebensache der Welt“. Folglich packte er Schuhe und was er sonst noch so braucht selbst ein und setzte sich in den Zug nach Paris, von wo er mit den ihm gänzlich unbekannten Mitspielern am Mittwoch nach Südamerika flog.
1995 war ein sehr gutes Jahr für Kochen. Zwar patzte sein hoch favorisierter SC Neuenheim im Pokalfinale gegen den Platznachbarn Rudergesellschaft Heidelberg und verlor mit 6:26, doch dafür gelang im November in Hürth der Coup gegen den Favoriten Victoria Linden aus Hannover: Der SCN wurde zum siebtenmal Deutscher Meister.
Der Mann ist übrigens weder Riese noch Kleiderschrank: Er mißt 1,74 m und wiegt 69 Kilo. „In der D- und C-Jugend als kleiner Knirps spielte ich noch Außendreiviertel. Da ich zu den schnellsten, aber nicht zu den kompaktesten Spielern gehörte, stellte mich mein Trainer später auf die Position des Gedrängehalb.“ Warum? Der Gedrängehalb hat seine Position dicht hinter dem Gedränge, jener Formation, mit der der Ball ins Spiel gebracht wird – und dicht bei der Gasse. „Da muß man schnell reagieren, den Stürmern anzeigen, wohin sie sich orientieren sollen.“ Vor allem eins aber ist wichtig: „Du mußt kein Koffer sein!“
Das kreative Moment im Rugbyspielen eines Gedrängehalb konnte er bisher in 23 Länderspielen demonstrieren. Allerdings zählt die deutsche Mannschaft im Unterschied zu den 30er Jahren nicht mehr zur Spitze in Europa: Frankreich und die englischsprachigen Länder dominieren. Demnächst muß sie sich in der B-Gruppe in Qualifikationsspielen um Teilnahme an der WM 1999 in Wales bemühen. Wahrscheinlich vergeblich. Gerade deshalb ist für Kocher der Ruf der FIRA „eine große Ehre“, ohne daß hier nationalistische Untertöne hörbar wären. Nein, insgeheim hofft er auf einen „kleinen Kick“ für das deutsche Rugby, das außer in Hannover und Heidelberg nirgendwo im Lande so richtig blüht.
Im Gegensatz zu WM und dem Großereignis Tournoi des Cinq Nations (mit Frankreich, England, Schottland, Wales und Irland), wo 15er-Rugby gespielt wird, geht es bei gleicher Feldgröße in Punta del Este sieben gegen sieben – und das zweimal sieben Minuten lang. „Mitten in der Saison wäre die Umstellung auf 7er-Rugby sicher schwierig“, weiß Kocher, „da viel schneller und kräftezehrender gespielt wird.“
Wenngleich er das 7er auch gerne mag, macht für ihn „das 15er das eigentliche Rugby aus“. Kochers Vorbereitung auf Uruguay beschränkte sich der Jahreszeit gemäß auf Lauftraining und Jogging, da die Böden in den Rugby-Stadien am Heidelberger Tiergarten fest gefroren und die Mannschaftskameraden fast alle in Urlaub gefahren sind.
In Punta del Este wird der französische 7er-Trainer Bernard Delbreil die Weltauswahl betreuen, der außer Kocher auch der Tunesier Boughanmi, der Portugiese Durao, der Rumäne Draguceanu, der Paraguayer Caseres und der für den RC Narbonne spielende Andorraner Calvel angehören. Viele Beobachter werden dabei sein, wenn die FIRA-Sieben sich heute und morgen mit der französischen Nationalmannschaft und den weltbesten Teams aus Übersee mißt.
„In Deutschland“, so Kay Kocher, „spielt keiner Rugby mit dem Hintergedanken, einmal ins Ausland wechseln zu können.“ Doch jetzt, kurz vor Abschluß seines Studiums, macht sich Kocher schon mal Gedanken: „Wenn einer käme und sagen würde, da hast du einen Zweijahresvertrag, würde ich mir das überlegen ...“ Doch gleich ist er wieder Realist. „Nach dem Ende meines Studiums möchte ich weiter Rugby spielen, bei welchem Verein hängt davon ab, wo ich eine Anstellung finde.“
Am liebsten bliebe er natürlich beim SC Neuenheim, der froh sein kann, daß sein Kapitän zukünftig nicht hinter dem Bankschalter sitzen oder Versicherungen verkaufen muß. „Mit einem blauen Auge kannst du nicht in jedem Beruf auftreten“, sagt Kocher. „Da mußt du dann schweren Herzens das Rugby aufgeben.“
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