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Antikommunisten, made in der DDR

Karl W. Frickes autobiographischer Bericht über Entführung aus dem Westen und Haft im Osten  ■ Von Falco Werkentin

„Jeder Republikflüchtige (ist) ein Propagandist gegen den Sozialismus“, notierte Rudolf Herrnstadt, Chefredakteur des Neuen Deutschland und Mitglied des Politbüros der SED, am 6. Juni 1953. Von diesen antikommunistischen Propagandisten trieb die SED zwischen 1949 und August 1961 etwa 2,5 Millionen auf die unfreiwillige Reise in die Bundesrepublik. Einer von ihnen war Karl Wilhelm Fricke, später lange Jahre Leiter der Ost-West-Redaktion des Deutschlandfunks. In seinem soeben erschienenen Buch gibt er exemplarisch darüber Auskunft, wie die Bewohner der SBZ/DDR zu „Propagandisten gegen den Sozialismus“ wurden.

Anstoß zu dieser dokumentarischen Rekonstruktion gab der Aktenberg, den Fricke über sich und seine Familie in den Archiven des SED-Staates vorfand. Der Autor, Jahrgang 1929, ist 17 Jahre alt, als sein Vater, seit 1926 Volksschullehrer, seit 1937 NSDAP-Mitglied, im Juni 1946 vom NKWD verhaftet wird. Ungeachtet einer Unbedenklichkeitsbescheinigung des örtlichen Antifa-Komitees, die der Vater vorweisen kann, kommt er in ein Internierungslager. Knapp drei Jahre später, im Februar 1949, verhaftet die Volkspolizei den 20jährigen Sohn Karl Wilhelm, der nach Abschluß des Gymnasiums als Hilfslehrer für Russisch eine Anstellung gefunden hatte.

Dem jungen Fricke gelingt es, aus dem Volkspolizeigebäude zu entkommen und in die Bundesrepublik zu fliehen, wo er studiert und beginnt, als Journalist über die DDR zu publizieren. 1950 wird Frickes Vater in den berüchtigten Waldheimer „Prozessen“ zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Er stirbt 1952 im Zuchthaus.

Drei Jahre später, am 1. April 1955, wird Karl Wilhelm Fricke von der Staatsicherheit aus West- Berlin entführt – eines von mehr als 800 Menschenraubopfern der Stasi. Doch damit nicht genug. Zwischenzeitlich war auch die noch in der DDR lebende Mutter von K. W. Fricke ins Visier des MfS gekommen. Wenige Tage nach der Entführung ihres Sohnes wird auch sie verhaftet und schließlich wegen Staatsverleumdung und Ausfuhr von DDR-Geld 1956 zu zwei Jahren Haft verurteilt.

Inzwischen sitzt Karl Wilhelm Fricke im Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen. Wie heute Dokumente ausweisen, sehen die Justizfunktionäre in Absprache mit dem ZK-Apparat zunächst vor, ihn für 15 Jahre hinter Zuchthausmauern verschwinden zu lassen. Doch führt der 20. Parteitag der KPdSU, auf dem Chruschtschow in einer berühmten Geheimrede die Verbrechen Stalins anprangert, auch in der DDR zu einer kurzen Tauwetterperiode. Der Parteiapparat beschließt, Fricke wegen angeblicher Spionage mit vier Jahren Haft davonkommen zu lassen. Am 11. Juli 1956 findet die Verhandlung vor dem Obersten Gericht der DDR (OG) statt. Auf Antrag des Anklägers soll die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden, doch nach kurzer Verhandlungspause verkündet das Gericht die Ablehnung dieses Begehrens. Dazu Fricke als Zeitzeuge in eigener Sache: „Es war zum Lachen und dennoch kein Witz: Die nicht vorhandene Öffentlichkeit wurde von der Verhandlung vor Gericht nicht ausgeschlossen.“

Noch am selben Tag offizialisieren die Justizfunktionäre des OG das vorab in Absprache mit dem Parteiapparat festgelegte Urteil. Der Autor verbringt vier Jahre in Einzelhaft, bevor er im März 1959 in die Bundesrepublik entlassen wird. Rückblickend schreibt er: „Ich bin 1959 in die Freiheit heimgekehrt mit dem festen Entschluß, die Information als politische Waffe nun erst recht zu gebrauchen und einen mir möglichen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung zu leisten, der geeignet war, den Sozialismus in den Farben der DDR in seiner erbärmlichen Verlogenheit bloßzustellen“.

Nach der Haftentlassung entwickelt sich Fricke zum herausragenden Experten für das Herrschaftssystem der SED. Unzählig sind seine Aufsätze, Vorträge und Bücher. Und fortan läßt das MfS den Autor nicht mehr aus dem Blick. Zahllose Berichte und Maßnahmepläne, mit denen die Tschekisten das Wirken von Fricke verfolgten und bis zum Ende der DDR zu beeinträchtigen suchten, zeugen davon. Der letzte Bericht datiert vom 7. Mai 1989. Als Ende 1989 Bürgerrechtler der DDR die Stasi-Zwingburgen besetzen und mit der Auflösung des MfS beginnen, haben sie Frickes Buch „Die DDR-Staatssicherheit“ in der Hand – die zu diesem Zeitpunkt sorfältigste Darstellung von Struktur und Geschichte des MfS.

Der neue, von der Gauck-Behörde herausgegebene Bericht gibt jedoch nicht nur Auskunft über die exemplarische Geschichte der Familie Fricke. Darüber hinaus ist der Autor den Biographien jener auf der Spur, die als SED- und MfS-Mitarbeiter auf seine Lebensgeschichte Einfluß genommen haben. Zum Beispiel der jenes Mannes, welcher 1955 unmittelbar die Entführung aus West-Berlin bewerkstelligte. Er heißt Kurt Rittwagen und hatte gleichermaßen ein Schicksal, wie es nur dieses Jahrhundert produzieren konnte. Von Beruf Seemann und Mitglied des Kommunistischen Jugendverbandes, ging Rittwagen 1935 in die Sowjetunion, wo er bis 1939 in Karaganda als Küchenleiter arbeitete. 1939 vom NKWD verhaftet, wird er wie viele andere kommunistische und jüdische Emigranten nach dem Hitler-Stalin-Pakt am 5. Februar 1940 vom NKWD in Brest-Litowsk an die SS ausgeliefert. Er kommt in das KZ Sachsenhausen, schließt sich hier dem illegalen Apparat der KPD an und überlebt. In Hamburg wird er 1945 Mitglied der KPD, muß aber alsbald wegen krimineller Delikte in die SBZ fliehen. Zusammen mit seiner Frau verpflichtet er sich 1952, für das MfS in West-Berlin zu arbeiten. Hier gibt er sich als politischer Flüchtling aus. Da ihm nach der Entführung Frickes der Boden zu heiß wird, geht er nach Ost-Berlin zurück und wird am 7. April 1955 im Neuen Deutschland als reumütiger BND-Agent präsentiert, der um politisches Asyl gebeten habe. Seine MfS-Karriere beendet er 1974 im Range eines Majors. Im Frühjahr 1990 läßt er sich als „Opfer des Stalinismus“ registrieren.

Für seine Darstellung hat Fricke eine geradezu peinigend nüchterne Sprache gewählt, die das Ausmaß persönlichen Leids, welches hinter der in diesem Band mit seinen vielen Auszügen aus MfS-, SED- und Justizdokumenten rekonstruierten Familiengeschichte steckt, nur ahnen läßt. Fricke ist nicht Manès Sperber oder Arthur Koestler, aber seine Schilderung kommunistischer Herrschaftspraxis geht unter die Haut. Wer den konsequenten Antikommunismus jener Generation verstehen will, mit der wiederum meine Generation seit den späten sechziger Jahren bei unzähligen Gelegenheiten zusammenprallte, erhält mit diesem Band ein lesenswertes Lehrbuch von bleibenden Wert in die Hand.

Karl Wilhelm Fricke: „Akteneinsicht – Rekonstruktion einer politischen Verfolgung. Analysen und Dokumente.“ Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten, Band 2. Ch.-Links-Verlag, Berlin 1995, 264 Seiten, 34 DM

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