■ SURFBRETT: Selbsthilfe für Kinderschänder
Wegsehen ist leichter als hinsehen. Ein Zeichen moralischer Stärke ist es nicht. Hinter dem Wunsch nach Zensur steckt immer Angst. Vor der Wirklichkeit, vor sich selbst, seit neuestem auch vor dem Internet. Staatsanwälte und Politiker wollen es kontrollieren, aber es gelingt ihnen nicht. Das macht nicht nur ihnen Angst, sondern auch all den Leuten, die lieber nicht alles wissen wollen. Aber es gibt jetzt keine Ausreden mehr. Wer wissen will, was Kinderpornographie ist, kann sie sich im Internet ansehen. Von jeder Illusion befreit, stellt sich dann die Frage nach den Tätern und den Konsumenten. Was treibt sie dahin?
Die Antworten sind ebenfalls im Internet zu finden, nämlich unter der Adresse http://www.casti.com/NMV/html/ nmv.html. Das ist die Homepage der anonymen Mailingliste „No More Victims“. Päderasten schreiben über sich selbst, über ihre Lust an den Kindern, darüber, wie sie damit zu leben versuchen, manchmal auch mit Hilfe der Pornographie. Doch die Mailing-Liste hat nur ein Ziel: Sie will den Mißbrauch von Kindern verhindern. Nicht im Datennetz, sondern dort, wo es nötiger ist: bei den Tätern selbst. „Somebody Somewhere“, der Moderator, der die Zuschriften sammelt, ist davon überzeugt, daß dieses Ziel nur erreicht werden kann, wenn alle Informationen darüber „frei fließen“, wie er schreibt, und allen zugänglich sind, die sich dafür interessieren.
Die meisten Beiträge werden veröffentlicht. Am 22. April 1993 erschien die erste Ausgabe. „Small Beginnings“ heißt der erste Artikel, später folgt ein Gedicht über einen Vater und seinen mißbrauchten Sohn: „Du und ich, wir warten nur darauf, daß es wieder geschieht“ („Waiting“). Auch „random“ wartet, fast ohne Hoffnung. Könnte es sein, fragt er am 31. Dezember 1995 in der nunmehr 70. Sammlung der Briefe, daß wir heute dort stehen, wo die Schwulen vor fünfzig Jahren standen? Beide Seiten führen einen Krieg, die Päderasten wie ihre Verfolger, weil sie beide die Wahrheit nicht wissen wollen. „Manchmal möchte ich ein Gewehr in die Hand nehmen und schreien: ,Ich bin nicht krank, ich bin anders!‘“.
Am wenigsten geschützt sind die Kinder wohl in der christlichen Kirche. „SNAP“, eine US-amerikanische Selbsthilfegruppe der Opfer, hat unter http:// www.ece.orst.edu/~barreta/snap/ ihre Homepage eingerichtet. Ein Nachrichtendienst sammelt alles, was über den sexuellen Mißbrauch von Kindern durch „Priester, Pfarrer, Lehrer, Mönche und Nonnen“ bekannt wird.
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