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Das komplexe Phänomen des Rassismus

■ Die KZ-Gedenkstätte Neuengamme gibt eine neue Schriftenreihe heraus

Gedenkstätten sind nicht nur Orte der Besinnung, die beim Blick auf die Nazizeit Momente der Betretenheit produzieren (sollen) – manchmal mischen sie sich auch ins Heute ein. Und eine tut das jetzt auf neue Weise: Die KZ-Gedenkstätte Neuengamme hat eine Schriftenreihe begonnen, die neben der Unterdrückung und Verfolgung von damals auch das Fortdauern der Geschichte in der Gegenwart thematisiert.

Die Ideologie der Vergangenheit hat in Hamburg nicht nur architektonische Spuren hinterlassen: Militarismus, Untertanengeist, Fremdenangst, Rassismus sind noch in so manchem Kopf lebendig, was den Blick vom Damals auf das Jetzt sinnvoll macht. Aber es geht den Herausgebern nicht um eine simple und oberflächliche Gleichsetzung nach dem naiven Motto: Seht, wir haben die Geschichte nicht richtig „aufgearbeitet“, deshalb kommt alles wieder . . . Mit dem Schwerpunktthema des ersten Heftes – Rassismus in Deutschland – wird ein anderer Zugang versucht. Die historische Folie dient der Sensibilisierung für ideologische Strukturen, gedankliche und emotionale Mechanismen, die auch in der Gegenwart ihre Rolle spielen.

Alle Aufsätze des Hauptteils bleiben eng am konkreten (geschichtlichen) Beispiel, unternehmen keine historische Psychologisierung menschenverachtender Einstellungen. Es geht um den Rassismus im „Alltag“ des Neuengammer Konzentrationslagers, um die Einstellung der Deutschen zu sowjetischen Kriegsgefangenen, um Hannovers „Judenhäuser“. Und nur gelegentlich enthalten die Beiträge den Fingerzeig auf das Heute – eine Übertragung muß der Leser schon selbst leisten.

Aktueller Teil und Dokumentation des Heftes sind in anderer Fokussierung der Gegenwart gewidmet; auch hier, in der Diskussion um Funktion und Aufgaben von KZ-Gedenkstätten, um die „Ostpolitik“ der IG Farben (heute!) oder die geplante Besetzung der Gedenkstätte Neuengamme durch den Roma National Congress, treten die besagten gedanklichen und emotionalen Strukturen wieder hervor.

Das Redaktionsteam hat gut daran getan, Vergangenheit und Gegenwart nicht unter Preisgabe historischer Differenzierung mit starrem Blick auf den Rassismus gleichzusetzen. Und man maßt sich auch keine vorschnellen Erklärungen an: Den Kopf des Lesers setzen vielmehr die geschickte Ausweitung des Themenkreises, das unkommentierte Nebeneinanderstellen geschichtlicher wie aktueller Streif- und Schlaglichter in Gang. Dabei werden gleichzeitig Zusammenhänge und Unterschiede sichtbar – komplexen Phänomenen, komplexen Problemen wie dem Rassismus ist mit schlichten Thesen eben nicht beizukommen.

Ein großer Teil dieser Startnummer ist Meldungen und Buchbesprechungen gewidmet. Hier finden sich gebündelt jene Informationen über Veranstaltungen und Projekte, über Vereinigungen und Materialien, die sonst nur schwer zu erlangen sind. Und das ist mehr als eine Serviceleistung: Es entsteht ein Forum für aktuelle Aktivitäten – weiterer Hinweis auf die Unzertrennbarkeit von Geschichte und Gegenwart.

Kay Dohnke

KZ-Gedenkstätte Neuengamme: Rassismus in Deutschland. Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland; Edition Temmen, Bremen 1994; 179 S., 19,80 Mark

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