: Alle wollen Unding werden
Auch ohne Berufsbild ist Politikwissenschaft ein begehrtes Studienfach. Abschlüsse waren von den Gründern um Otto Suhr gar nicht vorgesehen ■ Von Christian Arns
„Wir suchen zum nächsten 1. einen Politikwissenschaftler.“ – Eine solche Anzeige im Stellenmarkt würde wahrscheinlich hysterisches Gelächter unter entsprechend qualifizierten Akademikern auslösen, haben sie doch Zeit ihres Studiums gelernt, daß sie danach wirklich niemand braucht. Vorzustellen ist auch, daß die Anzeige per Kopie auf ihr zwölffaches Format vergrößert und in den Instituts- Fluren aufgehängt würde – einfach nur so, zur Erheiterung. Während Medizinstudenten zu Ärzten werden und Richter zwingend Jura studiert haben müssen, berechtigt der politikwissenschaftliche Abschluß zu gar nichts.
„Stabile und vorgezeichnete Berufskarrieren gibt es für Politologen nicht“, umschreibt dies die Bundesanstalt für Arbeit in ihren Blättern zur Berufskunde. „Was macht man denn damit?“ ist daher sicher die meistgestellte Frage an diejenigen, die sich dennoch für dieses Fach entschieden haben, allein in Berlin rund 4.000.
Offenbar gehen mittlerweile selbst Professoren wie selbstverständlich davon aus, daß der Studienabschluß für die Absolventen eine mittlere Katastrophe darstellt: „Laßt euch ermutigen“, schrieb etwa Peter Grottian vom Fachbereich Politikwissenschaft der Freien Universität (FU) denen, die dort jüngst fertig wurden. Dabei verwies er auf die neueste Verbleibstudie; sie habe gezeigt, daß „allenfalls ein Viertel wirklich durchhängt“.
Nur sechs Prozent sind effektiv arbeitslos
Dabei sind die Ergebnisse durchaus erfreulicher: Zwar bleiben auch nach einiger Zeit 16,2 Prozent der FU-Absolventen erwerbslos. Die meisten von ihnen promovieren jedoch oder bilden sich anders weiter, so das Ergebnis der Studie von Tim Rössle. Dieser machte die Frage seiner Berufschancen vor zwei Jahren zum Thema seiner Diplomarbeit und befragte 536 Diplompolitologen, die zwischen 1987 und 1992 ihren Abschluß an der FU gemacht hatten. Die effektive Arbeitslosigkeit liegt danach bei sechs Prozent. Verbessert hat sich die Situation derer, die einen Job ergattern konnten: Weniger ABM-Stellen, dafür mehr vertraglich geregelte Tätigkeiten im ersten Arbeitsmarkt, mehr Vollzeit- Beschäftigungen und höhere Einkommensgruppen.
Doch wer nicht an der Universität bleibt, wird es dennoch nicht zum beruflichen Politikwissenschaftler bringen. Das war auch von den Gründern der ersten Fakultät nach dem Zweiten Weltkrieg, den Sozialdemokraten um den späteren Regierenden Bürgermeister Otto Suhr, überhaupt nicht vorgesehen. Als sie die Wiedergründung der Deutschen Hochschule für Politik (DHfP) initiierten, ging es ihnen um eine Abendschule für alle am politischen Geschehen Beteiligten – um demokratische Bildung für „Politiker“ im allerweitesten Sinne.
Studienabschlüsse waren keineswegs geplant: „Der Diplompolitiker wäre ein Unding“, verwarf Suhr die Idee. Doch schon bald gab die Hochschulleitung dem Druck der Studierenden nach und kreierte einen Abschluß, ohne daß dieser einem Berufsbild entsprochen hätte. Als die DHfP nach zehn Jahren zu einem FU-Fachbereich wurde, erhielt dieser den Namen seines prominenten Mitbegründers und wurde zum Otto- Suhr-Institut, dem OSI.
Inzwischen hat sich die Disziplin etabliert und kann nach Auskunft der Hochschulrektorenkonferenz an 55 Universitäten studiert werden. Als Haupt- oder Nebenfach im Magister- oder Lehramts-Studium ist Politik noch immer verbreiteter als in Diplomstudiengängen. Doch auch dies bieten inzwischen zwölf Universitäten, etwa Hamburg und Bremen, Frankfurt/ Main und Marburg, Potsdam oder Leipzig. Mindestens ein Nebenfach ist dabei die Regel, in Frankfurt und dem benachbarten Marburg haben sich die Studienplaner dafür den hübschen Begriff „Pflichtwahlfach“ einfallen lassen. Studiert wird meistens an einem Institut, das zu einem Fachbereich für mehrere gesellschafts- und sozialwissenschaftliche Fächer gehört. Daß die Politologen einen eigenen Fachbereich haben wie an der Freien Universität Berlin, ist die völlige Ausnahme. Doch mit seinen knapp 40 Professoren und über 100 weiteren Lehrenden ist das OSI, das offiziell längst nicht mehr so heißt, die mit Abstand größte und bedeutendste politikwissenschaftliche Lehreinrichtung der Bundesrepublik.
Für alle neu: Zwei Voll-Unis in einer Stadt
Die Bedeutung jedoch sank mit der Maueröffnung, durch die vor allem die Humboldt-Uni im (Ost- )Zentrum der Stadt interessant wurde. „Wir haben uns von Anfang an dafür eingesetzt, daß es Politikwissenschaft auch an der Humboldt-Universität gibt, da es ein Grundfach ist“, versichert OSI- Professor Ralf Rytlewski heute. Allerdings habe man wegen der neuen Situation, „zwei Voll-Universitäten in einer Stadt, das gab es weder in Ost noch in West“, darauf gedrungen, daß sich die Angebote „in einem Spezifikum unterscheiden“ müßten. Angst vor Konkurrenz habe es nicht gegeben, vielmehr die „Hoffnung auf Entlastung, auch durch Potsdam“.
Die Zahl der Studienanfänger am OSI sank erheblich, nun ist sie aber wieder stabil, wie sich Dekan Rytlewski freut: „Wir hatten zu Beginn dieses Semesters einen Bewerberandrang über den Numerus Clausus hinaus, unsere Quote ist voll ausgebucht.“ Insgesamt sind nun 2.494 Studenten am OSI eingeschrieben. Zum Vergleich: An der Technischen Uni sind es 172, in Leipzig 334, in Hamburg 644.
An der Humboldt-Uni hingegen wächst der Studiengang Sozialwissenschaft seit September 1991 beständig: 1.064 Studierende sind dort eingeschrieben, 320 von ihnen im ersten Semster, so Katrin Werlich, studentische Mitarbeiterin in der HU-Pressestelle. Allerdings können nicht alle von ihnen als Politikstudenten bezeichnet werden, erklärt Werlich: In dem integrierten Studiengang absolvierten angehende Politologen ihr Grundstudium übereinstimmend mit angehenden Soziologen.
Als Politiker im engeren Sinne werden die wenigsten von ihnen enden; dort sind vor allem Juristen und Ökonomen vertreten. Verkehrsminister Wissmann ist Politologe, auch SPD-Fraktionschef Scharping. Dennoch sind Politologen in beinahe allen Bereichen vertreten, in denen Politik gemacht oder beobachtet wird: Bei den Medien etwa, wo laut der neuesten Verbleibstudie etwa ein Sechstel der Absolventen landet. Auch bei der taz, so wird gemunkelt, habe sich die eine Politologin und der andere Politologe eingeschlichen.
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