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Achte auf deine Zunge!

„Gridlock“ – Totale Sprachblockade: Verstreute Notizen aus Amerika über den weithin herrschenden Druck des korrekten Sprachgebrauchs und verschiedene Wege, sich ihm zu entziehen  ■ Von Herbert Genzmer

Oversized Jeans, die ohne Gürtel auf dem Hüftknochen liegen, darunter schaut das weiße Logo einer Adidas-Herrenunterhose auf schwarzem Gummiband heraus, die zu lange Hose ist unten ausgefranst und schleift über die Erde, die schwarzen Adidas- 70er-Jahre-Revival-Turnschuhe aus Wildleder mit den naturfarbenen Gummisohlen sind nur teilweise zu sehen, der Bauch ist nackt, und im Bauchnabel blinkt ein Ring, das Oberteil ist ein kurzes Leibchen, darunter eine glänzende schwarze Adidas-Trainingsjacke ohne Gummibündchen, die drei weißen Streifen ziehen sich vom Nacken über die Arme. Ghettoästhetik. In den Ohren stecken gut zehn Ohrringe oder Pins. Die weiße Tochter aus bürgerlichem Hause ist 16. Piercing ist in, Selbstverstümmelung Zeichen von Nonkonformismus und gesteigertem Individualismus. Sie träumt von durchstochenen Brustwarzen, phantasiert Pins in der Zunge herbei. Sie will ihrer selbst „immerzu versichert sein“. Tätowierungen sind in. Sie will einen Native-American Eagle, einen indianischen Adler, dessen Flügel sich über ihre Schulter an beiden Seiten hinunter übers Schulterblatt und bis zur Brust ausbreiten sollen. Sie raucht Joints. Sie hört E-40, Ice-Cube, Public Enemy, aber auch Bob Dylan, Bob Marley, James Taylor, Cat Stevens. Sie haßt ihre Eltern, besonders ihren Vater, denn er ist alt und spielt Golf. Sie sagt es ihm, wenn er etwas macht, was ihr mißfällt: I hate you! Das hat sie ihm schon als ganz junger Mensch gesagt: I hate you. Sie hatte belanglose Drogenprobleme an der örtlichen Highschool. Ihre Eltern nahmen sie von der Schule und schickten sie auf eine Privatschule. 30 Kilometer entfernt. 12.000 Dollar im Jahr. Sie braucht ein Auto, um zur Schule zu fahren, den Führerschein hat sie seit vier Monaten. Sie sagt: I want a Camaro! Schaut niemanden an und besteht darauf: I want a Camaro! Sie spielt hart, und sie ist cool. I want a Camaro!

Sie fährt durch die Stadt. Ein Wagen vor ihr kommt nicht schnell genug von der Stelle, schafft den Start nicht glatt genug an einer Ampel. Die Fahrerin, gekleidet in neuer Massenmord-Ästhetik, schlägt mit der flachen Hand aufs Lenkrad und schreit: C'mon person!

Terminologisches gridlock!

Das junge Mädchen sieht mindestens nach „Kacker!“, „Wichser!“ oder „Scheißer!“ aus, aber sie brüllt „person!“ und spricht es aus wie Deatwish Teil3.

Die Werte kippen. Das Genozid-Kid säuselt „person“. Der Nichtraucher-Yuppie als „American Psycho“ zerstückelt hemmungslos. Skins wünschen Schwulen unverblümt den Tod, von denen wiederum kleiden sich viele wie diese – um nicht aufzufallen? – mit Springerstiefeln und tragen rasierte Köpfe. Andererseits, warum nicht? Schwulsein schließt eine rechte Gesinnung nicht aus.

Hier darf es keine Verlierer geben

Die kleine, weiße, amerikanische Eisprinzessin trainiert jeden Morgen vor der Schule von sechs bis sieben. Einmal im Monat gibt es einen Wettbewerb. Aufgeteilt werden die Kleinen jeweils zu dreien in Gruppen verschiedener Farben, Rot, Grün, Blau, Gelb. Die kleine Eisprinzessin gewinnt eine Medaille, eine silberne, sie wird Zweite der gelben Gruppe. Sie erhält eine Urkunde. Siegerehrung. Treppchen. Da, linke Stufe. In Wirklichkeit sind die besten Läuferinnen in der roten, die zweitbesten in der grünen und so weiter und die schlechtesten in der gelben Gruppe. Sie ist Zweite der Schlechtesten oder Elfte von zwölfen. Aber es gibt keine Verlierer. Nicht bis viel später jedenfalls.

Schwarze Kinder wachsen in den USA anders auf. Gewalt, auch sprachliche Gewalt, ist ein fester Bestandteil ihres Lebens. Kein gridlock hier.

Gridlock: n. 1. the total paralysis of vehicular traffic in all directions in an urban area because key intersections are blocked by traffic. [GRID+LOCK]1

Lenny Bruce brachte in den frühen sechziger Jahren sein Publikum mit Schockwörtern aus dem Gleichgewicht, als er „nigger“, „faggot“, „fuck“ sagte, zögerten die Leute zunächst, lächelten dann, erlebten schließlich Lachanfälle. Nicht nur verbalisierte Bruce in amerikanischer Stand-up-comedy- Manier das Tabu, er zeigte auf einzelne Personen im Zuschauerraum und identifizierte: „Nigger!“ „Tunte!“ When in doubt, smile! Diese Regel gilt nicht nur in Amerika auch heute noch, und die Aufhebung von Verboten, die Entkräftung von Tabus versetzt die Menschen in einen verrückten Zustand, den sie besonders auf sprachlicher Ebene mit Befreiung verwechseln. Und ebenso wie Kinder, die in einer bestimmten Entwicklungsstufe „verbotene“ Wörter aufschnappen und sie immerzu wiederholen, um ihre eigenen Grenzen auszuloten, schreit ein derart angestacheltes Publikum das Verbotene in alkoholisierter Enthemmung heraus. Kein gridlock hier, aber Zeichen von Befreiung? Damals ließ so etwas die Menschen in den ersten Zuckungen dessen erschauern, was sie als neue Freiheit zu erahnen begannen. Die Wörter, die Bruce durch die Räume tipsen ließ, gewannen ihre Kraft, weil sie im „normalen“ Diskurs unterdrückt wurden, man dachte sie, aber sie kamen nicht vor, waren tabuisiert, und die Leute gestatteten sich nicht, solche Wörter über ihre Lippen kommen zu lassen.

Doch die Befreiung nahm ihren Lauf. Die International Society for the Welfare of Cripples wurde Ende der sechziger Jahre umbenannt in „The International Society for the Rehabilitation of the Disabled“. Geistig Behinderte nennt die International Herald Tribune im Juni 1995 „mentally disadvantaged“.

Vorstellungen dessen, was politisch korrekt ist, begannen sich damals zu entwickeln, das Bewußtsein hing hinterher. Auch heute noch sind „diese“ Wörter im aus Utah stammenden Textprogramm WordPerfect nicht enthalten, und das Lexikon weigert sich, sie zu speichern.

Softwarezensur.

Die Freiheit des Andersfluchenden

In Amerika sind es die schwarzen Rapper, die als einzige Brucesche Töne anschlagen. Sie brechen sprachliche Tabus von politischer Korrektheit. Sie erlauben sich den Luxus, rassistisch zu sein und es auszusprechen, was die sie umgebende andersrassische (weiße) Gesellschaft in helle Aufregung versetzt und ihnen Vorwürfe einbringt, die für jeden Weißen vernichtend wären. Würde man Bruce Springsteen als frauenfeindlich, rassistisch, sexistisch, homophob und gewaltverherrlichend bezeichnen, wäre seine Karriere zu Ende. Bei Ice-Cube, Ice-Tea oder E-40 ist es vitaler Ausdruck ihrer Kunst, die ihnen genau den nötigen Grad an Aggressivität und auch an Freiheit gibt. Und, wie geht eine im Grunde gegen Schwarze rassistische Gesellschaft in neu gewonnener politisch korrekter Selbstgerechtigkeit damit um, wenn das Objekt des Rassismus zum Subjekt eines eigenen Rassismus wird?

Gridlock eben. Paralyse.

Andererseits: Warum nicht? Schwarzsein schließt eine rechte Gesinnung noch lange nicht aus. Louis Farrakhan weiß das.

Und für andere ist all das nur wieder die Bestätigung ihres eigenen Rassismus. Siehst du!

Rapper sind nicht politisch korrekt, andererseits sind sie, weil sie schwarz sind, in gewissen – wiederum weißen – Kreisen a priori PK. Aber gridlock eben: Eine weiße Reporterin, die Ice-Cube interviewte und ihn befragen wollte, wie er dazu stehe, Frauen als „bitches“, „holes“ oder „sluts“ zu bezeichnen und wie er seinen Rassismus bewerte, sah sich plötzlich außer Stande, ihm genau diese Frage zu stellen, weil es verboten ist, in den USA diese (four-letter-)Wörter in Radio oder Fernsehen zu verwenden. Aber nicht nur stellte das ein Problem dar, die Frau wollte ihn zu etwas befragen, was sie, die sich als PK definieren würde, so nicht einmal denken durfte, geschweige denn aussprechen. So geriet das Interview zum Gestammel, denn Ice-Cube ist viel zu intelligent, um nicht gleich bemerkt zu haben, wo das Problem lag, warum er keine konkrete Frage gestellt bekam, warum sie zusehends ausweichender und gleichzeitig anklagender wurde. Also drehte er den Spieß um und versuchte sie zu zwingen, ihm diese Wörter, die sie ihm zwar vorwarf, aber nicht aussprechen konnte, weil sie sie eigentlich nicht denken durfte, zu nennen. Was die Reporterin in eine stammelnde Anfängerin verwandelte, die sich aus diesem Dilemma hinauswinden mußte.

Denn wie umgehen mit etwas, das es nicht gibt, weil es das nicht geben darf?

Wie kann man so etwas nur sagen?

Dann sitzen im Bus zwei weiße Mädchen, vielleicht acht bis zehn Jahre alt. Sie streiten und sie schlagen sich spielerisch, wie Kinder sind, singen und sind auf diese wirklich überdrehte Art ausgelassen.

An einer Haltestelle steigt eine ältere Frau mit gewaltig dicken Brillengläsern ein. Lupen. Winzige Äuglein dahinter. Eines der Kinder flüstert dem anderen Mädchen etwas ins Ohr. Wohl über die Brille oder über die Frau allgemein. Anstatt mitzulachen und die überdrehte Stimmung beizubehalten (denn das Kind hatte es unter Lachen geflüstert, mit Seitenblicken auf die Frau) oder auch nur eine freundliche Geste zu machen, sagt sie: You are cruel! How can you say something like that? That is so cruel of you!

Und all das sagt sie sehr laut. Also wird das andere Mädchen rot und weiß sich nicht zu lassen und leidet ganz offensichtlich.

Gleichaltrige machen einen Witz und werden von anderen Gleichaltrigen mit Erwachsenenmentalität abgelehnt. Amerika. Gridlock eben. Aber warum nicht? Kindsein schließt eine selbstgerechte Haltung nicht aus.

Obszönitäten als Zuflucht

Andererseits befällt das Gilles-de- la-Tourette-Syndrome besonders junge Menschen. Sie entwickeln Zuckungen vor allem im Hals- und Gesichtsbereich, die mit verstärkter Atmung einhergehen, sie dazu veranlassen, zu seufzen, wütend zu schnauben, zu stöhnen oder sich zu räuspern. Kurz, es führt zu einem zwanghaften Ausstoßen von Schreien als verbalem Tic (Klazomanie). Dieses Verhalten geht zugleich einher mit Zwangshandlungen und dem Ausstoßen von unanständigen Ausdrücken im Sinne eines zwanghaften Wiederholens von vulgären Ausdrücken aus der Fäkalsprache (Koprolalie). Für das Ausstoßen dieser Obszönitäten mit lauter Stimme liegt keine bestimmte Motivation vor, die Menschen haben auch keine Kontrolle über ihre Handlungen. Häufig geht das Gilles-de-la-Tourette- Syndrome mit Linkshändigkeit und motorischen Asymmetrien einher. Der New Family Medical Guide empfiehlt das Medikament Haloperidol und sagt weiter, der Grund für das Auftreten der Krankheit, denn als solche muß dieses Verhalten betrachtet werden, sei unbekannt.

Wenn sich tief aus den Verschüttungen der Persönlichkeit lautes unkontrolliertes Fluchen und Beleidigen in die normale Unterhaltung drängt, so vielleicht, weil es nie zugelassen wurde. Sind also Menschen, die sich so verhalten, vielleicht Exilanten, die in der Krankheit, im Gilles-de-la-Tourette-Syndrome Zuflucht suchen, weil sie es anders nicht mehr ertragen würden, weil der soziale Druck zu groß wird, das gridlock zu eng, weil nicht sein kann, was nicht sein darf?

Krankheit als Zuflucht ist kein neues Phänomen. Umgekehrt aber sprachliche Paralyse als Krankheit zu verstehen und den Ausbruch daraus als mögliche Heilung, wäre eine neue Variante.

Terminologisches gridlock, eigentlich also das Tabu und seine Durchbrechung – auch nicht so unbekannt. Als Folge aber fluchende, Beleidigungen spuckende Menschenmassen erleben zu müssen, also in einem kommunalen Gilles- de-la-Tourette-Syndrome leben zu müssen – weniger als angenehm.

Der Schrifsteller Herbert Genzmer (43) hat während seines Studiums sechs Jahre lang in Berkeley (USA) gelebt und wohnt heute wechselweise in Tarragona (Spanien) und Krefeld. Er übersetzt aus dem Spanischen und Englischen und hat zahlreiche Romane und Erzählungen veröffentlicht, zuletzt im Insel Verlag, Frankfurt: „Das Amulett“ (1993), „Die Einsamkeit des Zauberers“ (1991) und „Letzte Blicke. Flüchtige Details“ (1995) – siehe die Rezension in der taz vom 23./24.9 1995.

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