Wie Juden Nazis schlugen

Auf die Wiederkehr des Faschismus in Großbritannien nach dem Zweiten Weltkrieg reagierten Juden mit der „43 Group“. Und es half  ■ Von Ralf Sotscheck

Großbritannien im Herbst 1945: Oswald Mosley, der während des Krieges interniert war, begann vorsichtig mit dem Wiederaufbau seiner faschistischen Organisation. Um nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen, vermied er bestimmte Reizworte: Statt „Britische Union der Faschisten“ nannte man sich „Liga der ehemaligen Angehörigen der Streitkräfte“, statt gegen „die Juden“ hetzte man gegen „die Fremden“. Die Taktik ging zunächst auf: Ende des Jahres war die Mitgliederzahl beachtlich gewachsen, die Faschisten trauten sich wieder auf die Straße. Schon bald wurden ihre Redner bei öffentlichen Versammlungen deutlicher: Sie riefen dazu auf, die Synagogen niederzubrennen und brüllten: „Weg mit den Juden!“ Jüdische Einrichtungen wurden mit Hakenkreuzen beschmiert, an vielen Wänden tauchte der Spruch auf: „Juda verrecke!“

Die britischen Juden des Jahres 1946, besonders die Exsoldaten unter ihnen, waren jedoch von einem anderen Kaliber als die jüdische Gemeinde der Vorkriegszeit, erinnert sich Morris Beckman in seinem Buch „The 43 Group“, das jetzt auf deutsch erschienen ist: „Die Frustration stieg, und eine unbehagliche, nervöse Unruhe lag in der Luft. Dann, am Abend des letzten Februarsamstag 1946, passierte das Unvermeidliche.“

Beckman und seine Freunde Gerry Flamberg, Alec Carson und Len Sherman – alle ehemalige Angehörige der britischen Armee – waren auf dem Weg zu Jack Straw's Kneipe im Londoner Stadtteil Hampstead. Unterwegs stießen sie auf eine faschistische Kundgebung. Der Sprecher war Jeffrey Hamm, der bereits vor dem Krieg zu Mosleys Organisation gehört hatte. Er wurde von vier Leibwächtern beschützt. Beckman und seine Freunde fackelten nicht lange. Sie warfen die Rednertribüne um und schlugen Hamm und die Leibwächter zusammen. „Es war die erste Nachkriegskundgebung der Mosley-Anhänger, die durch physische Gewalt beendet wurde“, schreibt Beckman.

Eine Woche später beriefen Beckman und die anderen drei ein Treffen von Gleichgesinnten im Haus des jüdischen Londoner Sportvereins Makkabi ein, um über das Vorgehen gegen die Faschisten zu beraten. 43 Leute kamen – die „43 Group“ war geboren. Einer davon war Vidal Sassoon, ein Friseur, der später in die USA auswanderte und mit seinen Haarpflegeprodukten weltbekannt wurde. „So begann es“, schreibt Sassoon im Vorwort zu Beckmans Buch. „Wir hatten zum letzten Mal die Wange hingehalten, und ich als 17jähriger Neuling war stolz, dabeizusein.“

Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer, schreibt Beckman: „Die Mitglieder der Gruppe wurden von Interessenten fast überrannt. Am letzten Apriltag 1946 waren über 300 ehemalige Soldaten und Soldatinnen eingetragen.“ Im September waren es schon mehr als 500, später sogar 900. Auch nichtjüdische Exsoldaten traten der Gruppe bei. Sie erwiesen sich vor allem bei der Infiltration der Faschisten-Organisationen als nützlich. Das Bild wandelte sich: „Die Aggression der Schwarzhemden gegen die Juden war von heftigen Angriffen der Juden auf die Faschisten abgelöst worden“, schreibt Beckman.

Vier Jahre nachdem die 43 Group entstanden war löste sie sich wieder auf: Die Faschisten waren von den Straßen vertrieben, Mosley hatte sich vorerst zur Ruhe gesetzt. Ende der Fünfziger meldete er sich wieder zu Wort, diesmal aus Brixton und Notting Hill, wo er nun gegen dunkelhäutige Einwanderer mobil machen wollte. Prompt entstand Anfang der sechziger Jahre die „62 Group“ mit vielen bekannten Gesichtern aus der 43 Group und bot ihm Paroli.

Beckman ist der erste, der über diesen Aspekt der jüdischen Geschichte berichtet hat. Die offiziellen jüdischen Organisationen in Großbritannien distanzierten sich damals von der 43 Group und beharrten darauf, daß man die Faschisten nur mit legalen Mitteln bekämpfen dürfe. Aber auch aus der 43 Group selbst kam Widerstand gegen die Offenlegung der Vergangenheit: Nach der Auflösung der Gruppe zogen sich viele ins Privatleben zurück, machten Karriere und wollten ihre gewalttätige Vergangenheit am liebsten ruhenlassen. „Der ganze Zeitraum von 1945 bis 1950 ist vergessene Geschichte“, sagt der Historiker David Cesarani. Viele Dinge seien in Großbritannien unterdrückt worden, zum Beispiel die schäbige Behandlung der Überlebenden des Holocaust.

Deshalb ist Morris Beckmans Buch ein wichtiges Dokument, das darüber hinaus spannend geschrieben ist. Man hätte sich gewünscht, daß Michaele Brock und Martin Griffin, die das Buch ins Deutsche übertragen haben, nicht sprachlich so eng am englischen Original geblieben wären. Doch der Inhalt des Buches macht die manchmal holprige Übersetzung wett, zumal das Thema nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat. „Heute ist es viel schlimmer“, sagte ein Mitglied der 43 Group beim Jubiläumstreffen 1990, „heute bräuchte man zwei 43 Groups.“

Morris Beckman: „The 43 Group. Antifaschistischer Kampf in Großbritannien 1946-1950“. Mit einem Vorwort von Vidal Sassoon. Harald-Kater-Verlag, Berlin 1995. 206 Seiten, 25 Mark.