: Im Posing-Beutel heiraten? Hochzeit?
■ „Hochzeitsträume 96“ und „Baby“: die allerschönsten 9 Monate in der Stadthalle
Wirft die Nachricht, daß demnächst die wundersame Institution des „Aufgebots“ als Besinnungszeit vor der Eheschließung wegfällt, einen Schatten auf die soeben eröffnete Doppelausstellung „Hochzeitsträume“ und „Baby“? Eine Frage, die nachdenklich stimmt. Noch nachdenklicher stimmt die Frage: Was fehlt bei der soeben eröffneten Doppelausstellung „Hochzeitsträume“ und „Baby“?
Bezeichnenderweise fehlen: der Stand eines Scheidungsanwalts; der Infotisch des Familiennotrufs; die Selbsthilfegruppe „Meine Frau schlägt mich“; Verhütungsmittel. Eigenartigerweise aber gibt es in Halle 5 einen Wahrsager namens El Fantadu. Wenn dieser Wahrsager (aufgetreten immerhin bei RTL-Rxplosiv und Frau Schreinemakers) die Wahrheit sagen würde, die bittere, die schreckliche, die stinknormale, auf den Kopf zu allen Ehewilligen und Kinderkriegfreudigen, dann allerdings würde die Ausstellung für alle Aussteller zur Pleite und zum Desaster. Gottlob sind Wahrsager (20 Mark fürs Kartenlesen, 30 Mark fürs Wahrsagen) ja gar nicht so.
Und somit wenden wir uns dem „Augenschmaus“ (Katalog) zu. Neben der weißen Miethochzeitskutsche aus Lilienthal geschieht soeben eine Brautmoden-Show mit Birgit, Marion und Dagmar. Drumherum, um den Laufsteg, hängen erschöpfte Mütter mit Kleinkindern. Tröpfelndes, ermattetes Kleinkindmütterklatschen, wenn der unglaublich schmierige Moderator Dagmars „kleine Geheimnisse“ preisgibt. 1. Geheimnis: Dagmar heiratet bald selbst! 2. Geheimnis: Sie hat ein drei Monate altes Baby! „Durch dieses Brautkleid mit abnehmbarer Schleppe wird das Bäuchlein gut verdeckt!“ Carmen brilliert mit einem „Kastenausschnitt“, das große Weiße kostet „einsacht“. „Dieses Schleifchen auf dem Popo ist ein Hinkucker, Marion,“ ölt der Moderator. Die angekündigte Dessous-Show fällt leider heute aus. Um ein Haar hätte ich jetzt geschrieben: gottseidank!
„Hochzeitsträume“ und „Baby“ - seit das „Aufgebot“ obsolet ist, kann man fast alles, was man mit den hier käuflichen Dingen erleben kann, innerhalb von neun Monaten erleben. Man kann sich mittels schwarzer (oder weißer???) Torselette und „Posing-Beutel“ (T.Wolff) gegenseitig scharf zu machen versuchen. Zum Standesamt zu Herrn Kleen gehen, der hier seine Stammbücher erklärt. Ringe kaufen, die Dame gern mit Stein. Hochzeitstorte ordern. Weiß heiraten. Ein Baby kriegen. Das Baby mit Milupa („mit Kristallzucker“) verderben. Es ist ja alles da. Nachher die Sintflut.
Da schrillt es vom Nachbarstand, vom Milupa-Stand, der Entsetzensschrei, den man immer vom Milupa-Stand hört und von allen Milupa-Ständen dieser Welt: DAUERNUCKELN! Bloß nicht DAUERNUCKELN lassen. Nie! Nimmer! Natürlich darf's Baby Milupa mit Kristallzucker haben, wenn es nur nicht DAUERNUKKELT! Dauernuckeln führt selbst bei Mineralwasser zu Karies, wie neuere Forschungen zeigen!
Weiß Gott, es gibt umlagerte Stände hier auf der „Hochzeitsträume“ und „Baby“: die Hebammen zum Beispiel, die geradezu bedrängt werden von ausufernden Achtmonatsbäuchen. Auf einem gelben Sonnenschirm steht „Tagesmütter“; da erfahren wir, daß Tagesmütter 600 Mark im Monat kosten, weswegen es kaum Tagesväter gibt, denen ist das zu wenig. Tagesomas gibt es sowieso nicht, weil sie vielleicht nicht fit genug sind. Der Stand gehört einer Bremer Tagesmütter-Vermittlung, die zwei Karteikästen hat. Einer für Suchen, einer für Bieten. Raten Sie mal, welcher fast leer ist!
Wir wollen nicht die Engel vergessen. Engel sind Wesen, die sich beim Standesamt in den Aufgebots-Schaukästen die Adressen der Brautpaare aufschreiben, um sie zu besuchen und einen Präsentkorb mit Persil-Megaperls, Einmalwindeln, Chips, Sebamed und anderen Markenartikeln zu überreichen. Ganz und gar geschenkt! Am Stand kann man während der Ausstellung, wenn man sich spontan entscheidet zu heiraten, eine Reise nach Venedig gewinnen. „Venedig sehen und sterben,“ sagt einer der Engel. Die Engel sind natürlich insgeheim bedrückt - was wird aus ihnen, wenn es das Aufgebot nicht mehr gibt und sie keine Adressen mehr haben? „Das wird bitter.“ O ihr Engel: Euretwegen würde ich heiraten, ein ums andere Mal! Doch ich habe schon zwei Mal das Aufgebot bestellt und den Präsentkorb abgezockt. Das fällt doch langsam auf! Burkhard Straßmann
Noch bis Sonntag. Eintritt 12 Mark, für Pärchen 20 Mark
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