: Ernster Streit um eine kleine Ägäis-Insel
Die Haltung der türkischen Regierung nach der Aktion zweier Journalisten löst in Athen Besorgnis aus ■ Von Niels Kadritzke
Berlin (taz) – Die jüngste Ägäis- Krise trägt den Namen Imia. Ob unter diesem Titel eine neue heiße Konfliktphase im 22 Jahren alten griechisch-türkischen Streit um Hoheitszonen und Festlandssockel beginnt, hängt momentan allein von der türkischen Regierung ab.
Der Streit um das Eiland Imia (türkisch: Kardak) wurde von zwei Journalisten der nationalistischen Zeitung Hürriyet vom Zaun gebrochen. Diese landeten am Sonntag mit einem Helikopter auf dem Felsbuckel (von 2.500 qm) und ersetzten die griechische durch die türkische Flagge. Die völkerrechtswidrige Privatinitiative hätte man in Athen als PR-Groteske des Massenblattes abhaken können, wenn sie nicht von der türkischen Regierung adaptiert worden wäre. Das Außenministerium erklärte, der Streit müsse durch Verhandlungen beigelegt werden. Und die amtierende Regierungschefin Tansu Çiller drohte, die Türkei werde ihre „nationalen Rechte“ durchsetzen.
Das mußte in Athen Alarm auslösen. Çiller hat damit erstmals türkische Ansprüche auf griechisches Territorium in der Ägäis erhoben. Denn Imia ist völkerrechtlich eindeutig griechisch. 1931 hatte die Türkei mit Italien, dem damaligen Herrn über die Dodekanes-Inselgruppe, die Seegrenze zwischen Imia und dem türkischen Inselchen Kato festgelegt. Als der Dodekanes 1947 Griechenland zufiel, wurde diese Grenze durch den Pariser Vertrag bestätigt. Heute ist Imia unbewohnt, aber für Unbefugte nicht ungefährlich, weil die Dynamitfischer von Kalymnos hier ihre Sprengstoffvorräte lagern. Vor allem aber hat jeder Felsen in der Ägäis eine völkerrechtliche Bedeutung: Wäre Imia türkisch, würde die Seegrenze zwischen Kalymnos und türkischer Küste knapp 10 Kilometer weiter westlich verlaufen.
Die Haltung der Regierung Çiller ist aus Athener Sicht vor allem deshalb besorgniserregend, weil sie in der Regel die Haltung der türkischen Militärs ausdrückt. Schon im Sommer 1995 hatte die Ministerpräsidentin erklärt, die Ausdehnung der griechischen Hoheitszone in der Ägäis auf 12 Seemeilen — eine völkerrechtlich zulässige, von Athen aber aus politischen Gründen nicht realisierte Maßnahme — würde einen Ägäiskrieg auslösen. Im Luftraum über den griechischen Inseln spielen sich seit Jahren Scheingefechte zwischen bewaffneten Kampfflugzeugen der beiden Nato-Staaten ab. Griechenland beansprucht rund um seine Inseln einen Luftraum von jeweils zehn Seemeilen, während die Türkei nur sechs Seemeilen anerkennt. Erst Anfang Januar stürzte bei einem dieser Fast- Zusammenstöße eine türkische F-16 ins Meer, nachdem sie die griechische Insel Chios überflogen hatte.
Die Hubschrauberaktion von Imia hat den Verdacht bestärkt, daß türkische Militärkreise solche Aktionen ermutigen. Bei dem Piratenflug der Journalisten mußte der Hubschrauber bei schlechtem Wetter das griechische Radar unterfliegen, was man Zivilpiloten nicht ohne weiteres zutraut. Noch stärker beunruhigt in Athen freilich die Gleichgültigkeit der Nato- und EU-Partner. Besonders groß ist die Enttäuschung über die Clinton-Regierung, die der Türkei modernste Luft-Boden-Raketen verkaufen will. Sie begründet dies gegenüber dem US-Kongreß ausgerechnet mit dem Hinweis auf „drohende Konflikte“ in der Ägäis.
Um so dringlicher erwartet die neue, europäisch orientierte Regierung Simitis eine Solidaritätsgeste aus Brüssel. Angesichts expansionistischer Drohgebärden der türkischen Militärs weist Athen seit Jahren darauf hin, daß die Grenzlinie in der Ägäis zugleich die EU-Außengrenze ist. Wie inoffiziell verlautet, soll deshalb auf dem Felsen Imia demnächst nicht nur die griechische, sondern auch die Europafahne flattern.
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