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Im ländlichen Irland geht die Angst um

Eine Serie von Verbrechen an alleinlebenden alten Menschen läßt die Rufe nach öffentlichen Hinrichtungen immer lauter werden. Die Polizei macht „Zigeuner“ für die Gewalttaten verantwortlich  ■ Aus Dublin Ralf Sotscheck

Tommy Casey war ein komischer Typ. Der Bauer aus Oranmore im Westen Irlands vermied jeden unnötigen Kontakt zu anderen Menschen. Sein kleines Cottage hatte keinen Strom und kein Telefon. Seit seine Mutter vor 30 Jahren starb, lebte er allein. Wenn Tommy mit seiner Schubkarre zum Einkaufen ins Dorf kam, wartete er in der Ecke, bis der Laden leer war. Manchmal kamen Nachbarn zum Cottage und erkundigten sich, ob alles in Ordnung wäre. „Alles okay“, rief Tommy dann durch die geschlossene Tür. Wer ihm ein paar Lebensmittel schenken wollte, hängte sie in einer Plastiktüte an den Türgriff.

Als vergangene Woche die blaue Tüte mit dem Schinken nach drei Tagen immer noch an der Tür hing, ahnten die Nachbarn, daß etwas passiert war. Nachdem sie die Tür aufgebrochen hatten, fanden sie Tommy Casey tot in einer Blutlache auf dem Küchenfußboden. Seine Hände und Füße waren mit einer Nylonschnur gefesselt, drei seiner Rippen waren gebrochen, am Hinterkopf hatte er eine Platzwunde. Tommy Casey war 68 Jahre alt.

Patrick Daly war 69. Er lebte auf seinem Vierzig-Hektar-Hof in Kilcummin im Südwesten Irlands mit seinen beiden Neffen. Am selben Tag, als man Tommy Casey entdeckt hatte, fand man Patrick Daly. Er lag in einem sechs Meter tiefen Brunnen nicht weit von seinem Haus entfernt. Seine Leiche war in Plastikplanen eingewickelt.

Casey und Daly sind die bisher letzten Fälle einer Verbrechensserie, die in den ländlichen Gegenden im Westen und Süden der Grünen Insel Angst und Schrecken verbreitet hat. 1961 lebten nur zehn Prozent der Landbevölkerung über 65 allein, dreißig Jahre später war es schon ein Viertel – rund 100.000 Menschen. Im vergangenen Vierteljahr sind 50 alleinstehende alte Leute in ihren Häusern überfallen und mitunter übel zugerichtet worden.

Am Heiligabend schlugen unbekannte Täter den 70jährigen Patrick Gardiner zusammen, erhitzten einen Schürhaken über einer Weihnachtskerze und sengten ihm die Augenbrauen ab. Dann zogen sie ihm eine Plastiktüte über den Kopf und banden ihm eine Schnur um den Hals. „Ich dachte, es sei aus mit mir“, sagte Gardiner, „aber ich betete und betete. Und Gott erhörte mich.“ Die Täter hatten umgerechnet 20 Mark erbeutet. Die Rufe nach der Prügelstrafe, nach öffentlichen Hinrichtungen und größeren Gefängnissen werden immer lauter.

Die irische Justizministerin Nora Owen reagierte hastig auf die Sperrt-sie-ein-und-werft-die- Schlüssel-weg-Stimmung. Letzte Woche stellte sie ihr Sicherheitspaket im Parlament vor. Noch in diesem Jahr sollen 278 neue Gefängniszellen fertig werden. Bisher gibt es 2.200 Gefängnisplätze – weit weniger als im EU-Durchschnitt, wenn man es auf die Bevölkerungszahl umrechnet. Außerdem wird die Zahl der Richter um 15 erhöht, und die 18 ländlichen Polizeieinheiten, die bisher von Dublin aus verwaltet wurden, sollen nun auf fünf Regionalbehörden aufgeteilt werden, damit sie flexibler reagieren können. Schließlich will Owen per Volksentscheid die Kautionsgesetze verschärfen lassen.

Was ist aber an den Behauptungen dran, daß die Rate von Gewaltverbrechen im vorigen Jahr um 60 Prozent gestiegen sei, und die Taten von bisher nicht dagewesenen Brutalität und Grausamkeit sind? Die Statistik belegt das Gegenteil: 1984 wurden 432 Menschen über 65 Jahren Opfer einer Gewalttat. 1988 waren es 118, und 1994 nur 69 Fälle. Für 1995 liegen noch keine Zahlen vor, aber fest steht, daß die Zahl weit unter der von 1984 liegt. Damals gab es auf dem Land eine Kette von Überfällen auf alte Menschen, die in Bezug auf Sadismus die derzeitigen Ereignisse fast in den Schatten stellt.

Für die Opfer ist das freilich kein Trost. Es nützt ihnen auch nichts, daß sie neuerdings Alarmanlagen von der Steuer absetzen können. Die meisten RentnerInnen machen gar keine Steuererklärung, und manche, wie Tommy Casey, haben gar keinen Strom für einen Alarm. Der Kolumnist der Irish Times, Vincent Browne, warnte dennoch vor Hysterie. „Wir scheinen uns kopfüber in politische Maßnahmen zu stürzen, die langfristig großen Schaden in unserer Gesellschaft anrichten werden“, schrieb er und fügte hinzu: „Es scheint heutzutage politisch korrekt oder zumindest akzeptabel zu sein, wenn die Polizei eine ganze Bevölkerungsgruppe als Verbrecher hinstellt.“

Die Polizei hat die Vermutung geäußert, daß „90 Prozent der Überfälle auf das Konto von vier miteinander verwandten irischen Zigeunerfamilien“ gingen. Die Fahrenden, wie sie sich selbst nennen, seien im vergangenen Jahr aus England zurückgekehrt. Diese Behauptungen haben bei den Organisationen der Fahrenden Empörung ausgelöst. „Es stimmt nicht, daß die Fahrenden ihre eigenen Leute unter allen Umständen decken würden“, sagt Michael McDonagh vom Irish Traveller Movement. „Auch wir haben Alte und Schwache in unserer Gemeinschaft. Niemand würde Leute schützen, die solch furchtbare Verbrechen begehen. In dem man uns alle dafür verantwortlich macht, schafft man eine Atmosphäre des Mißtrauens und der Angst, die in der Vergangenheit stets zu Übergriffen auf Fahrende geführt hat.“

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