Tschetschenen gehen auf die Barrikaden

Moskau droht, die Demonstrationen in Grosny dauern an. Jelzin sieht seine Chancen auf eine Wiederwahl schwinden und will den Krieg beenden. Aber zu seinen Bedingungen  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Demonstranten in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny richten sich offensichtlich auf längeres Bleiben ein. Auch gestern versammelten sich vor dem zerbombten Präsidentenpalast mehrere tausend Anhänger des geflüchteten Präsidenten Dschochar Dudajew, um für die Unabhängigkeit ihrer Republik zu demonstrieren. Trotz Drohungen des russischen Militärs und der moskautreuen Regierung, die Versammlung auseinanderzutreiben, errichteten die Demonstranten Barrikaden und Zelte. Nach Angaben eines russischen Militärs seien tschetschenische Scharfschützen gesichtet worden, die sich hinter den Demonstranten verschanzten, um gezielt Provokationen vorzunehmen. Beweise konnte das Militär wie üblich nicht vorlegen. Die Behauptung soll womöglich einen für einen späteren Zeitpunkt geplanten gewaltsamen Eingriff der Armee rechtfertigen.

Am Vortag hatten die Behörden des von Moskau inthronisierten Präsidenten Doku Sawgajew bereits eine Räumung des Platzes angekündigt. Das Militär drohte am Dienstag, „gezielt zu töten“, sollten aus dem Hinterhalt unter dem Schutz der Demonstranten Terrorakte verübt werden.

Offenkundig fühlt sich keine Seite in der Lage, den Worten Taten folgen zu lassen. Sawgajews tschetschenische Miliz, heißt es nach internen Berichten, hätte sich geweigert, gegen die eigenen Leute vorzugehen. Und die russischen Militärs, die darauf gehofft haben mögen, durch die Wahlen im Dezember den Konflikt zu „tschetschenisieren“, sehen sich wieder getäuscht. Erneute Kämpfe und ein Massaker in Grosny würden der Armee nicht nur hohe Verluste beibringen. Auch wäre der Beweis dafür erbracht, daß man seit über einem Jahr nicht einen Schritt vorwärtsgekommen ist.

Letzte Woche hatte Präsident Jelzin eine Friedensinitiative angekündigt, in der von einem Teilabzug der Truppen die Rede war. Details wurden bisher nicht bekannt. Auch der Druck aus der Gesellschaft wächst. Immer mehr Bürger sprechen sich gegen eine Fortsetzung des Krieges aus. Unterdessen äußerte sich Jelzin gestern halbwegs überlegt zu seinem Dilemma: „Wenn wir die Truppen abziehen, bricht in Tschetschenien ein Gemetzel aus.“ Mit Sicherheit werden Opfer des russischen Terrors Blutrache üben und Kollaborateure nach ihren Gepflogenheiten bestrafen.

Ob es wirklich zu einem Blutbad kommt, ist fraglich, zumal die Zahl der tatsächlich Moskauhörigen niedrig ist. Wahrscheinlicher ist die Rückkehr Dudajews. Das wäre die größte Blamage für den Kreml und seine Generäle. Der Präsident ist auch aus einem anderen Grund beunruhigt: „Ziehen wir die Truppen nicht ab, habe ich keine Chance, Präsident zu werden. Das Volk wird mich nicht wählen.“ Daher signalisierte Jelzin durch seinen Pressechef: „Der Präsident ist bereit, jede Petition zu unterzeichnen, um den Krieg zu beenden, aber er wird sich von Dudajew keine Friedensbedingungen stellen lassen.“