Wehrpflicht verfassungswidrig?

■ Ein Rechtsgutachten stoppt Prozeß gegen Totalverweigerer

Potsdam (taz) – Erstmals nach dem Mauerfall ist gestern ein Prozeß gegen einen Totalverweigerer wegen Verfassungsbedenken vertagt worden. Vor dem Potsdamer Amtsgericht beantragte Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck, das Verfahren gegen den 27jährigen Volker Wiedersberg auszusetzen, bis das Bundesverfassungsgericht über die allgemeine Wehrpflicht entschieden hätte. Das Gericht muß nun beraten, ob es diesem Antrag folgen wird.

Kaleck legte ein Gutachten des Hamburger Rechtswissenschaftlers Manfred Baldus vor. Darin kommt Baldus zu dem Schluß, daß die Wehrpflicht dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und auf Handlungsfreiheit zuwiderlaufe. Karlsruhe hatte in seinen Entscheidungen aus den Jahren 1960, 1978 und 1989 die „existentielle Gefährdung der Bundesrepublik durch ein totalitäres Regime“ zugunsten der Wehrpflicht ins Feld geführt. Die Voraussetzungen dieser Argumentation, so Baldus, seien durch die geänderte weltpolitische Lage nach 1989 weggefallen.

Der Potsdamer Amtsrichter Wolfgang Peters fühlte sich daraufhin außerstande, eine Entscheidung zu fällen. Im Unterschied zum Staatsanwalt sah er „Bedarf für eine gründliche Überlegung“. Peters wird zu entscheiden haben, ob auch er die Wehrpflicht für verfassungswidrig hält. Wenn ja, dann wäre Karlsruhe gefragt.

Rechtsanwalt Kaleck begrüßte die Unterbrechung des Verfahrens. Erstmals stünde innerhalb der Richterschaft das Dogma Wehrpflicht zur Disposition. Kalecks Mandant hätte sich eine sofortige Entscheidung des Richters gewünscht. Möglicherweise war Peters aber bei seinem ersten Prozeß gegen einen Totalverweigerer überfordert.

Der Potsdamer Volker Wiedersberg hat in der DDR den Dienst mit der Waffe und als Bausoldat verweigert. In der Bundesrepublik trat er seinen Zivildienst bei den „Grünanlagen Potsdam“ nie an. Deswegen wurde er wegen Dienstflucht angeklagt.

Wegen des gleichen Vorwurfs ist vor zwei Wochen der Westberliner Carsten Dannel zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten auf Bewährung verurteilt worden. Der Ostberliner Totalverweiger Oliver Blaudszun hat wegen Fahnenflucht im Januar das gleiche Strafmaß erhalten. Zuvor hatte er zwei Monate wegen Fluchtgefahr in Untersuchungshaft verbringen müssen.

In der DDR war er 14 Monate wegen Republikflucht eingesperrt gewesen. Christoph Oellers