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Ägäisstreit vom Meeresgrund bis in die Luft

In der Ägäis streiten Griechenland und die Türkei um die Ausbeutung des Meeresbodens, die territorialen Hoheitszonen und den Luftraum. Für die Beilegung des Konflikts wäre ein neutraler Schlichter dringend notwendig  ■ Von Niels Kadritzke

Hussein kann eine Geschichte erzählen, die wie ein Märchen klingt. Der Fischer von der türkischen Insel Alibey bei Ayvalik war mit seinem Boot in ein Unwetter geraten. Der Motor war ausgefallen, der Sturm trieb ihn auf die griechische Insel Lesbos zu. Bei Molivos wurde er von Fischern aufgegriffen. Die nahmen ihn mit und reparierten seinen alten Diesel. Kostenlos, denn Hussein hatte keine Drachme. Der Hafenpolizist registrierte seine Anwesenheit, indem er ihn zum Ouzo einlud. Und Soldaten? Die gab es damals noch nicht in Molivos.

Es war einmal. Das Märchen spielt vor 30 Jahren. Heute ist auf allen griechischen Inseln in der Nähe der türkischen Küste Militär stationiert. Seit 1974. Der Ausbruch des Zypernkrieges markiert auch den Beginn des Ägäis-Konflikts. Spannungen zwischen Griechenland und der Türkei hatten freilich schon im Herbst 1973 begonnen, als die beiden Anrainerstaaten in der Ölkrise mutmaßliche Ölvorkommen auf dem Meeresboden ins Auge faßten.

Zur Krise geriet der Streit mit dem Zypern-Abenteuer der Athener Junta. Die putschte am 15. Juli 1974 gegen die Regierung Makarios. Es war nicht nur der Auftakt für die türkische Invasion und die Teilung Zyperns, sondern auch ein traumatisches Ereignis für die Bewohner der ostägäischen Inseln.

Als Juntachef Ionnides seine Kriegsschiffe und Flugzeuge nach Zypern schicken wollte, drohten die Türken: Dann werden wir ein paar eurer Inseln erobern. Seitdem werden türkische Drohungen von den Inselgriechen bitterernst genommen. Deshalb fühlten sich viele vor zwei Wochen an 1974 erinnert. Zum ersten Mal machten die türkischen Militärs wahr, was sie immer nur angedroht hatten. Ein türkisches Kommando landete auf einer Klippe, die zum Doppeleiland Imia gehört. Auch nach ihrem Abzug sah die amtierende türkische Ministerpräsidentin Tansu Çiller die Felsen als türkisches Territorium bestätigt.

Welche Bedeutung hat die jüngste Krise innerhalb der seit 1974 entstandenen türkisch-griechischen Konfliktkonstellation? Der Anspruch auf Imia belegt die Taktik der Militärs in Ankara, den Konfliktstoff in der Ägäis stufenweise anzureichern. Die Seegrenze zwischen der türkischen Küste und den griechischen Dodekanes-Inseln war bislang völlig unumstritten, registriert auch in den Karten der britischen und der US-Marine.

Zwei Wochen nach dem Imia- Coup behauptet die türkische Regierungschefin, es gebe Hunderte von Imias. Dahinter steht eine Umverteilungspolitik von Rechtspositionen. Das Ziel nennt Çiller, die häufig ausspricht, was die türkische Militärkaste denkt: „Die Ägäis insgesamt muß Gegenstand von Verhandlungen werden.“

Die „Ägäis insgesamt“ ist Konfliktfeld, so vielgliedrig wie ihre Küsten- und Insellandschaft. Es umfaßt die Bereiche, die man mit völkerrechtlichen Spezialbegriffen wie Territorialgewässer und Festlandsockel umschreibt. Am anschaulichsten lassen sich diese Problemfelder in drei horizontalen Schichten darstellen.

Die unterste ist der Festlandsockel: der wirtschaftlich ausbeutbare Meeresboden. Darüber, auf der Ebene des Meeresspiegels, geht es um die Abgrenzung der Territorialgewässer, identisch mit der Hoheitszone, jenseits deren die internationalen Gewässer beginnen. In der Ägäis sind die Territorialgewässer derzeit auf sechs Seemeilen (sm) begrenzt, wobei jede – auch unbewohnte – Insel ihre eigene Hoheitszone besitzt. Die dritte Ebene ist der Luftraum über der Ägäis; er stellt ein gesondertes Problem dar, weil Griechenland im Luftraum einen größeren Hoheitsbereich beansprucht als auf der Wasseroberfläche, nämlich 10 sm, wiederum um jede einzelne Insel.

Begehrte Bodenschätze am Meeresgrund

Diese drei Schichten sind Schauplatz der wichtigsten türkisch-griechischen Konflikte:

1. Bei der Abgrenzung des Festlandsockels geht es um die Ausbeutung der Öl- oder Mineralvorkommen im Meeresboden. Da diese begehrte „Wirtschaftszone“ erst jenseits der Territorialgewässer beginnt, geht es um die Bodenschätze in den internationalen Gewässern in der Mitte der Ägäis. Im Streit um die Abgrenzung des Festlandsockels standen sich zwei unvereinbare Positionen gegenüber. Die Türken wollten die Osthälfte der Ägäis zur türkischen, die Westhälfte zur griechischen Wirtschaftszone erklären. Athen ging demgegenüber von einer geschlossenen griechischen Wirtschaftszone zwischen dem eigenen Festland und seinen ostägäischen Inseln aus, was die gesamte Ägäis quasi zum griechischen Binnenmeer machen würde.

Das 1982 neu kodifizierte Seerecht macht die Maximalvorstellungen beider Seiten zunichte. Demnach steht zwar jeder bewohnten Insel ein eigener Festlandsockel zu, also auch – entgegen der türkischen Auffassung – den griechischen Inseln in der Ostägäis. Aber es widerspricht auch der griechischen Vorstellung eines geschlossenen Wirtschaftsraums.

Die Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag (IGH) hat für den Fall eines Meeres mit gegenüberliegenden Küstenstaaten den Grundsatz einer „fairen Aufteilung“ des Festlandsockels entwickelt, ungefähr proportional zu ihrer jeweiligen Küstenlänge. Der Türkei würde demnach grob ein Drittel der Wirtschaftszone in der Mitte der Ägäis zustehen.

Die Rechtsexperten beider Seiten wissen natürlich, daß ihre Maximalforderungen unhaltbar sind. Am vernünftigsten wäre es also, die Abgrenzung des Festlandsockels durch den IGH anzustreben. Die griechische Regierung hat dies mehrfach vorgeschlagen, die Türkei besteht auf bilateralen Verhandlungen.

2. Der brisanteste Einzelkonflikt dreht sich heute um die Territorialgewässer. Die neue Seerechtskonvention, die seit November 1994 verbindliches Völkerrecht wurde, erlaubt jedem Staat, seine Hoheitsgewässer von 6 auf 12sm auszudehnen. In Ankara hat man die Seerechtskonvention nicht ratifiziert. Dennoch ist sie auch für die Türkei verbindlich, die im übrigen das 12-sm-Limit für ihre Hoheitszone im Schwarzen Meer und an der anatolischen Südküste in Anspruch nimmt.

Nur in der Ägäis besteht man auf der 6-Meilen-Zone. Türkische Regierungschefs und Militärs haben wiederholt erklärt, die Ausdehnung der griechischen Hoheitszone auf 12 Meilen werde Ankara mit einer Kriegserklärung beantworten. Im Sommer 1995 beschloß das türkische Parlament ein Gesetz, das die Regierung für diesen Fall zum Krieg ermächtigt.

Die Türkei sieht in der 12-Meilen-Klausel eine doppelte Bedrohung ihrer Interessen. Erstens würde der Anteil der griechischen Hoheitszone an der Gesamtfläche der Ägäis von 35 auf fast 64 Prozent anwachsen. So würde die Fläche schrumpfen, die als Festlandsockel zu verteilen wäre. Eine zweite Folge: Die Nord-Süd-Passage durch die Ägäis würde zu einer innergriechischen Wasserstraße; der Hafen von Izmir zum Beispiel, so das türkische Argument, würde dadurch „stranguliert“, weil er keine internationale Zufahrtsroute mehr ins übrige Mittelmeer hätte.

Was damit gemeint ist, zeigt die Karte. Die 6-sm-Zone läßt eine Passage durch internationale Gewässer in der Mitte der Ägäis frei. Die Ausdehnung auf 12 sm würde die heute getrennten Hoheitszonen der Kykladen und des Dodekanes ineinanderschieben. Die Nord-Süd-Passage durch die Ägäis würde durch griechische Gewässer führen.

Die türkischen Befürchtungen sind freilich nur sehr bedingt begründet. Die Veränderung wäre für die zivile Schiffahrt folgenlos, auch für den Handelshafen von Izmir würde sich rechtlich gar nichts ändern. Wohl aber für die Verbände der türkischen Kriegsflotte, die in der Bucht von Izmir liegen und im Kriegsfall gegen die griechischen Inseln operieren können. Ankara will vor allem diese Einschränkung nicht hinnehmen.

Doch auch die türkische Regierung weiß: Athen will und kann die der Türkei zustehende 12-sm-Hoheitszone gar nicht durchsetzen. Denn nicht nur die Türkei, auch die meisten anderen Seefahrtsstaaten wollen an den herrschenden Verhältnissen festhalten.

Expansionistische Tendenzen

Ein zweiter Grund für den griechischen Realismus: Die Erweiterung der Hoheitszonen wäre eine Veränderung des Status quo in der Ägäis. Die Beschwerden über den türkischen „Expansionismus“ verlieren an Glaubwürdigkeit, wenn man seine eigenen Territorialgewässer ausdehnt. Entscheidend ist für Athen nur, daß der völkerrechtliche Anspruch auf die 12 sm nicht aufgeben wird. Der Grund liegt eine Problemebene höher.

3. In dieser dritten Schicht ist die Frage der Lufthoheit umstritten. Die griechische Seite beansprucht im Luftraum eine Hoheitszone von 10 sm, die Türkei erkennt nur 6 sm an. Die Griechen nutzen ihre Zone seit 1931 gewohnheitsrechtlich, von türkischer Seite wurde sie 1974 „aufgekündigt“. In Athen weiß man zwar, daß die 4-Meilen-Differenz zwischen den Hoheitszonen zu Wasser und in der Luft eine „Anomalie“ darstellt. Man fühlt sich jedoch durch den theoretischen Anspruch auf 12 sm tiefe Territorialgewässer um die Ägäis- Inseln völkerrechtlich abgesichert: Athen bedient sich der erweiterten Hoheitszone selektiv, also nur im Luftraum über der Ägäis.

Im Luftraum gibt es also eine permanente Konfliktzone: jenen 4sm breiten Gürtel, der über die auf Meeresniveau geltende 6-sm- Hoheitszone hinausragt. In dieser Zone spielen sich regelmäßig Scheinkämpfe zwischen türkischen und griechischen Militärpiloten ab. Für sie ist es ein realistisches Training, aber da ihre Maschinen seit etwa zwei Jahren mit scharfer Munition bestückt sind, ist ein versehentlicher „Abschuß“ nicht auszuschließen. Auch diese Woche kann es wieder dazu kommen, wenn in den internationalen Gewässern zwischen den griechischen Inseln Limnos und Lesbos ein großes Manöver der türkischen See- und Landstreitkäfte stattfindet. Die Nato-Partner haben die Kontrahenten wie üblich ermahnt, Zurückhaltung zu üben.

Das klingt so hilflos wie immer. Aber seit dem Imia-Zwischenfall gibt es einen kleinen Unterschied. Erstmals haben die USA und die griechischen EU-Partner angedeutet, daß sie den Ägäis-Kontrahenten den Gang nach Den Haag empfehlen. Das ist ein deutliches Abrücken von der türkischen Strategie, alle Fragen auf bilateralem Weg zu lösen. Der Gang nach Den Haag wäre zugleich ein wichtiger Entspannungsschritt; er würde alle Seiten zwingen, den Status quo bis zu einer verbindlichen Entscheidung nicht anzutasten.

Eine neutrale Schiedsinstanz ist im Ägäis-Konflikt auch aus politischen Gründen unerläßlich. Da in beiden Ländern die populistischen Gefühle durch eine Krise wie in Imia gefährlich angeheizt werden, können die politischen Führungen sich kaum Konzessionen leisten. Da ist es besser, wenn ein Schiedsrichter als Unglücksbote verkündet, welche eigenen Maximalvorstellungen mit dem Völkerrecht nicht vereinbar sind.

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