: Der walisische Rimbaud
In Swansea wohnte einst Dylan Thomas, einer der größten englischsprachigen Lyriker und einer der profundesten Zecher. Heute lebt das walisische Seebad von seinem Geist ■ Von Hans-Günter Semsek
Besucher, die im walisischen Seebad Swansea die lange Strandpromenade entlangfahren, bemerken sie nur selten. Bei Ebbe wühlen sommers wie winters eine ganze Reihe von Männern im Schlick des breiten Strandes; sie alle suchen nach Cockles, kleinen Herzmuscheln, der gleichermaßen teuren wie leckeren örtlichen Spezialität von Swansea. Vor einigen Jahren kamen arbeitslose Liverpooler angereist, um am Cockles-Boom zu partizipieren und ein schnelles Pfund zu machen, doch die Lokalmatadore fackelten nicht lange, und schon flogen die Fäuste. Den Engländern war dies eine Warnung, bisher kamen sie nicht zurück, und seitdem tragen die Bewohner von Swansea ganz besonders gerne das in Wales beliebte und weitverbreitete T-Shirt mit der Aufschrift: „Keep Wales tidy – Drop your litter in England!“
Doch wie gesagt, Besucher, die in Swansea einfahren, wissen von all dem nichts, denn sie sind auf der Suche nach den Spuren von Dylan Thomas. Der walisische Dichter, neben T.S. Eliot und W.H. Auden einer der ganz großen englischsprachigen Lyriker der Moderne, wurde am 27. Oktober 1914 hier in Swansea im Cwmdonkin Drive Nr.5 (das walisische „w“ wird wie ein „u“ gesprochen) geboren – in der „häßlichen, der wunderschönen Seestadt, die sich an einer langen, herrlich geschwungenen Küste ausbreitet, wo Schulschwänzer und Strandläufer und alte Männer nach Strandgut suchten, umhertrödelten, wateten und den Schiffen nachsahen, wie sie hafenwärts zogen oder fortdampften ins Abenteuer, nach Indien, ins Wunder und nach China – in Länder, die nach Apfelsinen dufteten und widerhallten vom Löwengebrüll“.
Von Dylans hoch am Hang gelegenen Geburtshaus hat man einen prachtvollen Blick auf die sanft geschwungene, halbmondförmige Bucht von Swansea mit dem schönen, weiten Sandstrand.
Seine Jugendtage verbrachte Klein Dylan um die Ecke vom elterlichen Heim mit anderen Kinder im ausgedehnten Cwmdonkin- Park, wo er nach Herzenslust umhertollen konnte; nach seinem frühen Tod haben hier die einstigen Spielkameraden einen einfachen Stein aufstellen lassen, in dem die letzten drei Zeilen seines Gedichtes „Fern Hill“ eingemeißelt sind: „Oh, als ich jung war und leicht in seiner gewaltigen Kräfte Gnade, / Hielt Schwager Zeit mich, grün und sterbend / Ob ich auch sang in meinen Ketten wie die See.“
Das ausgedehnte Gartenareal – heutzutage ein beliebter Platz der Boule-Spieler von Swansea – inspirierte Dylan zu seinen ersten Gedichten, in denen er die vertrauten Gestalten seiner Kindheit nachzeichnete; das Genie kündigte sich schon früh an, und respektvoll nannten ihn Freunde, Lehrer und Mitschüler den Rimbaud vom Cwmdonkin Drive.
Wer weiter auf den Spuren des jungen Dylan wandern möchte, sollte nur einen Steinwurf unterhalb vom väterlichen Haus im Pub Uplands Tavern ein Bitter oder Lager auf den Dichter trinken; hier machte Jung Dylan seine ersten Erfahrungen mit dem Alkohol und dem Vollrausch; und im Vorort Mumbles, am Ende der Bucht von Swansea, darf man die Bar im Mermaid-Hotel nicht auslassen, wo eine Anzahl von Fotos den jungen Dylan beim Bechern an der Theke zeigen.
Zwischen seinem 16. und seinem 19. Geburtstag hatte Dylan die fruchtbarste Schaffensperiode seines Lebens, in dieser Zeit schrieb er sage und schreibe 212 lange Gedichte, umgerechnet pro Woche eins; dies waren doppelt so viele, wie er in den folgenden 20 Jahren zu Papier bringen sollte. Und dabei handelte es sich beileibe nicht um einfache Fingerübungen auf der Klaviatur der Metrik, sondern bereits um die äußerst elaborierten Verse eines Könners.
Der Hafen von Swansea, in dessen einstige Speicherhäuser Restaurants, Pubs, Imbißbuden, Ateliers und Galerien eingezogen sind, ist zu einem angenehmen innerstädtischen Erholungsgebiet gestaltet worden; hier erinnert eine gewaltige Bronzestatue an den großen Sohn der Stadt. Da sitzt Dylan breitbeinig auf einem Stuhl, leicht vornübergebeugt, als würde er seine Verse deklamieren (was er übrigens gut konnte). An sommerlich warmen Abenden, wenn die Durstigen draußen vor den umliegenden Pubs sitzen, das Lager oder Bitter zu Schabernack treibt, dann ist es in Swansea mittlerweile Sitte geworden, daß ein freundlicher Zecher mit einem vollen Glas Bier zur Statue geht und es Dylan vor die Füße stellt.
Ab 1933 erschienen die Verse des 19jährigen in bekannten Londoner Zeitungen, mehrfach gewann er Preise für seine Gedichte. 1934 dann kam der schmale Band „18 Poems“, zwei Jahre später der Gedichtband „25 Poems“ auf den Markt. Es folgten weitere Erzähl- und Gedichtbände und schließlich das kleine Meisterwerk „Portrait of the Artist as a Young Dog“; in den zehn Erzählungen läßt Dylan seine Jugendtage noch einmal Revue passieren.
Mit Anfang 20 ging Dylan für einige Zeit nach London. Bilder aus jenen Tagen zeigen einen ungeheuer jung aussehenden, ja fast noch kindlich wirkenden Knaben mit einem runden Milchgesicht, zu dem die Kneipenumgebung, der Bierhumpen und die Zigarette in hartem Kontrast stehen. Selbst beschrieben hat er sich in jenen Tagen so: „Ein bißchen angeberhaft, kleidet sich erlesen und überspringt dafür das Frühstück. Sie kennen den Typ, ein großspuriger Jüngling, ein Bohemien aus der Provinz, um den Hals als bauschig gebundene Künstlerkrawatte den Seidenschal der Schwester; ein schwadronierendes, ehrgeiziges, abgebrüht tuendes, anspruchsvolles Bürschchen.“
Abend für Abend zog er mit einem Troß harter Zecher durch die Pubs der Metropole, und sie alle soffen, was Zapfhähne und Steigleitungen hergaben, rissen Kalauer, und die machohafte Jungmännerrunde machte auch vor deftigen Obszönitäten nicht halt. Entsprechend seinem Lotterleben belegten ihn seine Saufkumpane mit so netten Spitznamen wie „entstofflichte Drüse“, „Schmutzwasserrinne“, „häßliches Bübchen“ oder „Dylan Dreckspatz“.
An einem der üblichen Saufabende fiel er in einem Pub der Schönheit Caitlin Macnamara auf, und sofort war er gezähmt; 1937 heirateten beide und lebten erst mit Sohn Llewellyn, dann mit Tochter Aeron in den folgenden Jahren in Cornwall, Hampshire und London, immer in billigen, ungeheizten Häusern, wo der Regen durchs Dach kam, es keinen Strom und fließend Wasser gab und ohne einen Pfennig in der Tasche – denn der war vorher im Pub versoffen worden, wobei Caitlin sich als ebenso trinkfest erwies wie Dylan.
Nach diesen Wanderjahren zog es dann beide zurück ins heimatliche Wales, und hier ließen sie sich an der walisischen Südküste im kleinen Örtchen Laugharne (sprich: Larn), 30 Kilometer westlich von Swansea, nieder. Eine Freundin konnte die Miserabilität der Lebensbedingungen nicht mehr mit ansehen und kaufte für Dylan und Caitlin, Llewelyn und Aeron das Boat House, zwei Monate nach dem Einzug wurde baby boy Colm geboren.
Das weiße, am Hang gebaute dreistöckige Häuschen – „das Haus auf Stelzen, hoch zwischen Schnäbeln und Palavern von Vögeln“ – liegt einen Steinwurf vom kleinen Ortszentrum entfernt unterhalb eines steilen Felsens, und von der umlaufenden Veranda aus hat man einen weiten Ausblick aufs Meer und den breiten Mündungstrichter des River Taf. Groß ist es nicht, und die fünfköpfige Familie Thomas hatte nicht gerade viel Platz. Unten gibt es die Küche mit dem Eßzimmer, von wo aus man auf die kleine Veranda kommt; an schönen Sommertagen nahm Caitlin gerne ein Sonnenbad.
Heute sitzen hier die Besucher und trinken ihren Tee oder Kaffee. Im ersten Stock ist das Wohnzimmer noch immer mit Caitlins und Dylans Möbeln ausgestattet. An den Wänden hängen eine Anzahl Fotos der Familie Thomas. Im oberen Stock befanden sich einmal die Schlafzimmer, und hier können sich die Besucher heute einen Videofilm über Dylans Leben ansehen oder die Erstausgaben seiner Bücher.
Oberhalb des Hauses, auf der Klippe, am Cliff Walk, der von hohen Hecken gesäumt und schlängelnd nach Laugharne hineinführt, bezog Dylan einen ehemaligen Fahrradschuppen und richtete sich darin seine Dichterklause – „mein Wasser- und Baumzimmer“ – ein; von hier oben hatte er einen phantastischen und ungeheuer inspirierenden Ausblick auf Meer und Fluß. Zum ersten Mal war die Familie Thomas seßhaft geworden, und das war eine gewaltige Zunahme an Lebensqualität.
Wann immer etwas Geld ins Haus kam, trug Dylan es in den Pub und versoff es; Trinken war integraler Bestandteil seine Lebens, und Dylan kultivierte das Bild vom gleichermaßen fröhlich wie heftig saufenden Poeten. Caitlin schrieb einmal „von Stunden der Agonie und der dumpfen Langeweile, die ich mit Dylan in Schmutzwasserkaschemmen verbrachte, wo er seinen heiligen Trinkmythos pflegte“.
Allmorgendlich machte sich Dylan vom Boat House auf den Weg die Klippe hoch, um von dort vorbei an seiner Schreibhütte nach Laugharne hineinzuspazieren und in Brown's Hotel, dem Pub des Örtchens, einzukehren. Dort saß er dann in der Küche der Wirtin Ivy Williams, sah ihr beim Kochen zu, trank seine Biere und hörte sich den Dorfklatsch an, den Ivy vor ihm ausbreitete und der zu einem wichtigen Ideengeber für sein berühmtes lyrisches Hörspiel „Unter dem Milchwald“ wurde. Hier erzählen Stimmen Geschichten, Klatsch und Gerüchte aus dem Alltag im walisischen Örtchen Llareggub. Als ihn ein Freund einmal darauf hinwies, daß er mit dem fiktiven Ortsnamen Llareggub zum ersten Mal ein walisisches Wort in seinen Versen benutzt hatte, winkte Dylan ab und riet ihm, es von hinten zu lesen: Bugger all, zu deutsch: alles Päderasten!
Mittags dann spazierte er von Brown's zurück nach Hause, kam mit klingelnden Bierflaschen in den Jackentaschen ins Boat House und nahm alleine seinen Lunch ein. Danach ging er in seine knallblau gestrichene Schreibhütte hoch, hockte sich auf den harten Stuhl und brachte an dem einfachen Tisch – die Einrichtung ist bis heute unverändert – zu Papier, was Ivy ihm erzählt hatte. Gegen Abend stieg er zum Abendessen die Stufen hinunter zum Boat House, und danach ging es zusammen mit Caitlin wieder in die Kneipe, zu Brown's.
Bis heute hängen bei Brown's eine Anzahl Bilder an den Wänden und zeigen Dylan an der Bar, beim Kartenspiel, beim Versedeklamieren und zusammen mit Caitlin beim Bier. Da hockt ein noch immer unglaublich jung aussehender Dylan mit dem Gesichtsausdruck eines verzogenen Bürschchens am Tisch und hat neben sich Caitlin wie eine reife Traube in voll erblühter, sinnlicher Schönheit sitzen. Doch Fotos können täuschen, Caitlin war eine Furie; als ängstlich, schüchtern und feige hat sie ihn einmal beschrieben, und sie war zweifellos das genaue Gegenteil, draufgängerisch, expressiv, mutig wie eine Löwin, ordinär wie ein Fischweib und laut wie ein Marktschreier.
1952 starb Dylans Vater, und der Sohn schrieb erschütternde, Tränen in die Augen treibende Verse: „Geh nicht so sanft in diese gute Nacht, / Das Alter sollte lodern, rasen, wenn der Tag sich senkt; / so wüte, wüte doch, daß man das Licht dir umgebracht.“
Als Dylan dann selbst an der Reihe war, noch jung, da ging auch er sanft in seine letzte Nacht und wütete, raste nicht gegen die ewige Finsternis. Auf seiner vierten Vortragsreise in Amerika, wo unter seiner Regie „Unter dem Milchwald“ aufgeführt und ein grandioser Erfolg wurde, nahmen seine Alkoholexzesse schlimme Formen an. Am Abend des 3. November 1953 ging er für kurze Zeit fort und verkündete bei seiner Rückkehr: „Ich habe 18 Whisky pur getrunken. Ich glaube, das ist der Rekord.“ Am nächsten Morgen wurde er ins Krankenhaus eingeliefert, wo er ins Koma fiel und fünf Tage später im Alter von 39 Jahren starb.
Caitlin überführte seine sterbliche Hülle nach Wales und ließ Dylan auf dem winzigen Friedhof von Laugharne zur letzten Ruhe betten. Sein Grab ist leicht zu finden, ein schlichtes weißes Holzkreuz markiert es. Im August 1994 ist Caitlin neben ihm begraben worden.
Anreise: Laugharne liegt 30 Kilometer westlich von Swansea und 15 Kilometer südlich von Carmarthen an der walisischen Südküste; in dem Örtchen ist das Boat House ausgeschildert. Öffnungszeiten: Ostern bis Oktober täglich 10 bis 17.15 Uhr; Oktober bis Ostern täglich außer Samstag 10–15.15 Uhr; Eintritt: 1,75 Pfund
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