: Die Welt als Komposition
■ Heute liest Klangforscher und Komponist Murray Schafer im Literaturhaus
Murray Schafer ist schon ein komischer Typ. Als in Paris die Metro-Linie „Buttes Chaumont“ eingestellt werden sollte, flog er über den Atlantik, um schnell noch die Fahrgeräusche dieser letzten quietschenden U-Bahn mit Holzsitzen einzufangen. Denn das Geräusch ist fortan vom Aussterben bedroht – wie so viele, denen der Klangforscher hinterherreist, um sie zumindest auf Tonband zu konservieren.
Was interessiert den Komponisten, Musikwissenschaftler, Autor und Klangforscher Murray Schafer im Jahre 1996? Heute abend etwa ist er im Literaturhaus, um sich ein paradoxes Problem vorzuknöpfen: „Ich habe nie ein Geräusch gesehen“ lautet der Titel seines Vortrages. Dahinter steckt folgende Überlegung: Visuelles Bewußtsein orientiert sich nach vorne, da wir im visuellen Raum mit dem Auge am Rande stehen und hineinschauen. Im akustischen Raum dagegen stehen wir immer im Zentrum und hören mit den Ohren nach draußen. Fazit des verspielten Theoretikers: „Es folgt, daß akustisch orientierte Gesellschaften als rückständig betrachtet werden: Sie können nicht geradeaus schauen.“
Diese Schlußfolgerung ist typisch für Schafer. Seit Ende der 60er Jahre hat er immer wieder versucht, die gesellschaftliche Ebene der Klänge zu durchleuchten. Damit machte er das Hören zu einer Frage der Politik. In seinem Buch „Klang und Krach“ (1977) unternahm er den Versuch, die Geschichte der Menschheit von einer anderen Seite her neu zu erkunden. Er ging dabei nur von den Geräuschen des Menschen und seiner Umgebung aus. Von der ersten „Liebkosung des Wassers“ zu Tierlauten, vom Scheppern des Eimers am Brunnenrand zum Rufen des Nachtwächters, der die Stadttore schließt, untersucht er die kulturellen Implikationen der jeweiligen Epoche.
Und zwischen allen Erkenntnissen und überdenkenswerten Fakten springen immer wieder Kleinigkeiten aus seinen Texten, die sich im Hirn festsetzen – oder, besser gesagt, wie im Gehörgang darin verweilen. Zum Beispiel die in wenigen Sätzen abgeleitete Behauptung, das Christentum sei Schuld daran, daß die westliche Zivilisation sich heute sklavisch dem Zeittakt der Uhren unterwirft. Ohne das stündliche Gebimmel, das die Glocken der Kirchtürme in uns hineinhämmerten, hätte die Umstellung einer ganzen Gesellschaft vom Sonnenlicht des Heubauern zum Zeittakt der post-industriellen Fabriken gar nicht großflächig funktionieren können, so Schafer.
Wer den Lärm hat, hat die Macht – so eine andere Schlußfolgerung des Buchs, das Generationen von Studenten beeinflußt hat. Die donnernde Kanone, die ratternde Eisenbahn, das in tiefe Frequenzen einlullende Automobil, die jaulende Rakete: Letztere ist die lauteste in der Dezibel-Tabelle, die im Verlauf der Jahrhunderte immer rascher anstieg. Und haben nicht die Besitzer der Atombombe heute die größte Macht?
Murray Schafer hat viele Facetten. Als Komponist folgt er Geräuschen und den Mythen, die sich um sie ranken. Als Künstler dokumentierte er in einem handgeschriebenen Tagebuch die Entzifferung der Inschriften in Ariadnes Labyrinth – und fügte ihnen Zeichnungen und amüsante Kritzeleien hinzu. Als unterhaltsamer Autor wirkt er phantasievoll und ein wenig verrückt. Als Mensch jedoch, so behaupten Insider, sei er „klein, still und konzentriert“. Trotzdem schart er immer wieder Menschen um sich, um mit ihnen das Hören zu üben – oder dem Klappern ihrer Schuhe zu lauschen, oder im Rundgang durch die Stadtviertel sogenannte „soundscapes“ zu erstellen. Bei diesem durchaus ernstgemeinten Spiel verzeichnet man während des Gehens alle wahrgenommenen Geräusche. Aus dem zuerst blütenreinen Papier wird so durch einen einfachen Spaziergang eine Landkarte mit eingetragenen Klangquellen – vom Hundegebell an der Straßenecke zum Kindergeschrei auf dem Spielplatz. Der Clou dabei: Diese Landkarten können Auskunft geben über die Alltagsgeräusche auf der ganzen Welt, und somit Material für Vergleiche liefern.
Schafer entwickelte diese Methode in den 70er Jahren für das „World Soundscape Project“, das kulturelle Aspekte der akustischen Umwelt untersuchte. Doch heute ist der Professor schon wieder auf anderen theoretischen Pfaden unterwegs. Er organisierte internationale Konferenzen über die Stille, unterrichtet Zöglinge am Centre des Musiciens in Straßburg und treibt die von ihm geforderte interdisziplinäre Wissenschaft voran, die sich einem „Akustikdesign“ der menschlichen Lebenswelt widmen soll.
Und zwischen dem von ihm so geliebten Scharren der Eisenstühle in den Cafes von Paris und der Stille seiner Heimat in den Bergen um Ontario nimmt er sich vier Tage Zeit für die Klänge Hamburgs: Nach dem Vortrag im Literaturhaus schließt sich ein Workshop an, in dem die Erkenntnisse der akustischen Ökologie am eigenen Leib erfahren werden können.
Gabriele Wittmann
Vortrag im Literaturhaus, Schwanenwik 38, heute, 20 Uhr.
workshop: 21.-24. Februar im Literaturhaus, jeweils 12-17 Uhr. Anmeldung: Tel. 39 82 62 82
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