: Verstörende Schreie aus der Antike
■ Iannis Xenakis' Orchesterwerk „Koiranoi“ wird heute in Hamburg uraufgeführt
Was ist Schönheit? Was ist ein Kunstwerk? Manche Besucher des heutigen NDR-Konzertes werden sich ähnliche Fragen stellen, wenn auf sie die Uraufführung von Koiranoi des in Paris lebenden Komponisten Iannis Xenakis herniedergegangen ist.
Iannis Xenakis zählt zu den großen, eigenwilligen Komponistenfiguren des 20. Jahrhunderts, dem Jahrhundert der Extreme. Kaum ein zweiter Komponist hat Musik mit so rigider Entschlossenheit neu gedacht und ist mit so stoischer Gelassenheit einen ästhetischen Weg gegangen, der vielerorts auf Ablehnung stieß. Xenakis erzählt ein kleines Familienanekdötchen, das viel über wahre und hohe Kunst verraten könnte: „Meinem Enkel zeigte ich den roten Himmel und sagte: Sieh mal, was für ein schöner Sonnenuntergang. Der Kleine entgegnete: Kenn ich, den habe ich schon gestern gesehen.“
Mit der Musik des 1922 im rumänischen Braila geborenen Komponisten, Architekten und Philosophen Iannis Xenakis verhält es sich aber insofern anders, als hier nicht das Schöne aus Gründen ästhetischer Unbildung übersehen wird, sondern das radikal sich äußernde Klangphänomen vehementen Protest hervorruft. Es ist eine Musik radikaler, geradezu unheimlicher Emotionalität, die den Schriftsteller Milan Kundera dazu veranlaßte, Xenakis als einen „Propheten der Unempfindsamkeit“ zu bezeichnen. Hart, brutal, maßlos, aber nie effektheischend fräsen sich seine musikalischen Texturen durch traditionelle Hörgewohnheiten. Auch oder gerade für philharmonische Orchestermusiker ist diese Musik eine empfindliche Attacke auf das redlich Gelernte. Virtuosität im klassischen Sinne spielt hier keine Rolle. So schreibt Xenakis in fast jeder seiner Partituren vibratoloses Spielen vor. Statt des weich vibrierenden, oft Sentimentalitäten auslösenden Geigenklangs fordert Xenakis einen klirrend kalten, erschreckenden Metallklang.
Elementar, fremd, unheimlich, bisweilen wie ein bedrohliches Fauchen überfällt seine Musik den Zuhörer, reißt ihn aus der Sicherheit abendländischer Dur/Moll-Statik in eine Klangwelt kompromißloser Diktion. Seit der Donau-eschinger Uraufführung seines Orchesterwerks Metastasis im Jahre 1954 beschreitet Xenakis einen konsequenten, äußerlich betrachtet sehr wissenschaftlich anmutenden kompositorischen Weg. Mit wahrscheinlichkeitstheoretischen Formeln errechnet er Klangbündel und -blöcke als elementare Bausteine seines Komponierens. Xenakis hat formelpralle Abhandlungen über seine Kompositionsweise geschrieben, die sich ohne mathematische Vorkenntnisse nur schwer erschließen lassen.
Dieses stromlinienförmig wirkende Kalkül ist jedoch nur die halbe Wahrheit seiner Musik, die andere Hälfte mag sich aus dem stürmischen Leben Xenakis' erschließen. Im 2. Weltkrieg war er Widerstandskämpfer gegen zunächst deutsche, später dann britische Besatzer. Schwer verwundet überlebte er diese Zeit und flüchtete 1947 nach Frankreich, das seine zweite Heimat wurde. Von 1947 bis 1960 war er Bauzeichner bei Le Corbusier, einem nicht minder radikalen Denker traditionsfeindlicher Formen.
Nicht gering ist der Einfluß architektonischen Denkens auf seine Kompositionen, die oft wie eine Synthese aus Licht und Raum erscheinen, immer auf dem Sprung in eine andere Denkwelt. Von Olivier Messiaen, bei dem Xenakis in den späten 40er Jahren Komposition studieren wollte, kam der entschiedene Rat, einen Weg außerhalb akademischer Bahnen zu suchen. In etwa 130 Kompositionen hat Xenakis diesen mittlerweile gut ausgebauten Weg beschritten.
Doch was treibt Xenakis nach Hamburg? Bis Anfang der 90er Jahre, als noch ein Musikfest 1995 geplant war, reichen die Flirts, die nun zur Geburt von Koiranoi führen. Damals konzipierte die Philharmonie Hamburg ein mehrtägiges, die zentralen Orchesterwerke von Xenakis berücksichtigendes Festival, das die krasse Klangsprache des Griechen mit ergötzlichen Werken Joseph Haydns zu paaren im Sinn hatte. Nach der Streichung des Musikfests blieb einzig die Idee einer Xenakis-Werkschau en miniature. Finanzielle Verknappungen schrumpften das Konzept zur Vision eines noch zu komponierenden Orchesterwerks, das dankenswerterweise das NDR-Sinfonieorchester für sein 50jähriges Jubiläum in Auftrag gab. Für Hamburg hat Xenakis die knapp 12minütige Komposition Koiranoi geschrieben.
Koiranoi, ein griechisches Wort aus homerischen Zeiten, bedeutet soviel wie Könige oder Anführer. Dirigent Zoltán Peskó, das ist vielleicht nicht so bekannt, ist ein überzeugter Xenakis-Interpret, der schon zwei seiner bedeutenden Orchesterwerke erfolgreich zur Uraufführung brachte. Ihm wird sicher eine fesselnde Deutung von Koiranoi gelingen, auch wenn die darauf folgenden Mozart- und Liszt-Beigaben (Mozarts Klavierkonzert KV 453, Liszts Faust-Sinfonie) ein Rätsel bleiben, das nicht nur durch ängstliche Konzertbesucher erklärt werden kann.
Mit Donaueschingen gibt es in diesem Jahr übrigens ein Wiedersehen: Zum 75jährigen Jubiläum der dortigen Musiktage komponierte Xenakis ein neues Orchesterwerk Ioolkos. Im Oktober wird es am Geburtsort seiner Karriere aus der Taufe gehoben. Sven Ahnert
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