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20 Minuten vom Zentrum riecht es nach Pferdemist

Gallanstown, Dublin: Am Horizont die Autobahn, davor das Wheatfield-Gefängnis. Nach Einbruch der Dunkelheit läßt sich hier kein Polizist blicken  ■ Aus Dublin Ralf Sotscheck

Jim Power merkte erst, daß man ihm die Kehle durchgeschnitten hatte, als das Blut sein weißes Hemd rot einfärbte. In Panik startete er seinen grünen Doppeldeckerbus, aber er kam nicht weit. Nach zweihundert Metern verlor er das Bewußtsein, der Bus rollte gegen eine Laterne. Jim Power hat den Überfall überlebt, aber einen Bus wird er nie wieder fahren.

24 Jahre hat er für die städtischen Verkehrsbetriebe „Dublin Bus“ hinter dem Steuer gesessen. Als er mit dem Messer attackiert wurde, machte er an der Endstation der Linie 42 B beim Darndale- Kreisverkehr im Norddubliner Stadtteil Coolock gerade Pause. Neben der mit Schlaglöchern übersäten dunklen Haltestelle liegt ein überwuchertes Feld, auf dem Müll und Autoteile verstreut sind. „Der Mann hatte sich nicht mal die Mühe gemacht, sich zu maskieren“, sagt Power. „Er hat 19 Pfund und 23 Pence erbeutet.“

„Bei Regen hängt das Pack nicht an den Haltestellen“

Power ist einer von 81 Busfahrern, die langfristig krank geschrieben sind, weil man sie überfallen hat. Das sind fast fünf Prozent aller Fahrer. Vor kurzem weigerten sich die Kollegen, abends nach Coolock zu fahren. Sie verlangten bessere Sicherheitsmaßnahmen. Inzwischen sind die Fahrerkabinen bei der Hälfte der 880 Dubliner Busse mit Trennscheiben ausgerüstet, für besonders gefährdete Strecken hat man versuchsweise ein neues Fahrkartensystem eingeführt: Vor der Trennscheibe ist ein rot-gelbes Metallrohr angebracht, das in einen Tresor unter dem Bus führt. Die Passagiere müssen das Fahrgeld in einen Schlitz im Rohr stecken. Wer kein Kleingeld hat, erhält einen Gutschein über den zuviel gezahlten Betrag, den er auf der Geschäftsstelle in der Innenstadt einlösen kann. Der Fahrer hat kein Bargeld bei sich, und an den Tresor kommt er nicht heran.

„Ich bin immer froh, wenn es am Wochenende regnet“, sagt Liam Clarke, der den 42er Bus fährt. „Bei Regen hängt das Pack nicht an den Haltestellen rum.“ Als sein Bus in die Tonlegee Road einbiegt, taucht im Rückspiegel ein weißer Opel auf. „Das ist Joe Mugan“, sagt Clarke, „unser Aufpasser.“ Der städtische Angestellte, der normalerweise am Schreibtisch in der Busverwaltung sitzt und mit den Fahrern Funkkontakt hält, geht jedes Wochenende auf Außendienst. Samstags fährt ein Polizist mit. „Wenn ich eine Gruppe von Jugendlichen auf dem Rücksitz sehe, folge ich dem Bus“, sagt Mugan. „Die Leute, die Ärger machen, sitzen immer hinten.“

Im Durchschnitt finden in Dublin 40 bewaffnete Raubüberfälle in der Woche statt. Ziel sind vor allem die kleinen Läden und Poststuben, die Tankstellen und Zeitungskioske. Der Verband der Einzelhändler geht davon aus, daß jeder kleine Dubliner Laden im Schnitt einmal im Jahr überfallen wird. In Wirklichkeit trifft es aber manche Geschäfte gar nicht, andere dafür um so öfter. „Ein Räuber“, sagt Sergeant Jim Hynes aus Coolock, „kehrt meist zu demselben Laden zurück, wenn er beim ersten Mal zwanzig oder dreißig Pfund erbeutet hat.“ Oder es machen ihm andere Drogensüchtige nach, wenn sie darüber in der Zeitung lesen. Die Geschäftsleute haben deshalb die Pressestelle der Polizei gebeten, Stillschweigen über die geraubten Summen zu bewahren.

Manche Gegenden sind für Streifenwagen tabu. Die Gallanstown-Siedlung in Cherry Orchard, südwestlich von Coolock, ist solch ein Viertel. Es gibt hier weder ein öffentliches Telefon, noch einen Briefkasten, einen Arzt, Geschäfte oder eine Kneipe. Mit Bussen sieht es auch nicht viel besser aus: Der 79er, der die Cherry Orchard Avenue hinunterfährt, verkehrt nur unregelmäßig. Für die 2.500 Kinder unter 14, die hier wohnen, gibt es keinen Spielplatz und kein Jugendzentrum. 70 Prozent der Menschen sind arbeitslos. Die Sozialbauhäuser von Gallanstown sehen mit ihren Flachdächern wie Container aus. Die Siedlung ist erst 1987 fertiggestellt worden, die umliegenden Siedlungen sind im Schnellbauverfahren seit 1975 aus dem Boden gestampft worden. Um eine infrastrukturelle Planung hat sich niemand gekümmert. Alte Leute sind auch tagsüber kaum zu sehen, nur ein Prozent der BewohnerInnen von Gallanstown sind über 65.

Vom „Kreisverkehr“ am Cherry Orchard Crescent, der aus Kostengründen nur aus einem weißen Hubbel mitten auf der Kreuzung besteht, erstreckt sich nach links Brachland, so weit man blicken kann. Geradeaus am Horizont sieht man die Autobahn, davor das Wheatfield-Gefängnis. Nach Einbruch der Dunkelheit läßt sich hier kein Polizist blicken, seit eine Streife vor kurzem in einen Hinterhalt gelockt wurde.

„Sie flitzten mit fünf oder sechs gestohlenen Autos herum“, erzählt ein Beamter. Als die Polizei in das Viertel hinterherfuhr, wurde sie schon erwartet: Quer über der Straße lagen Holzbretter mit langen Nägeln, rund 150 Jugendliche griffen den Polizeiwagen mit einem Arsenal von Steinen und Benzinbomben an. Die Polizisten forderten Verstärkung an, doch auch das Spezialfahrzeug mit Allradantrieb, vergitterten Scheiben und Räumvorrichtung konnte nicht viel ausrichten. Als sich mehrere Flaschen Benzin über ihre Uniformen ergossen, suchten die Polizisten das Weite. „Hätte das Benzin Feuer gefangen, dann hätte es Tote gegeben“, meint einer der Polizisten.

Eine Woche vor den Krawallen hatte die Polizei in Gallanstown Heroin im Marktwert von umgerechnet gut einer Viertelmillion Mark beschlagnahmt. „Die Krawallmacher wollen die Siedlung zur No-go-area für uns machen“, sagt ein Polizist, „damit sie in Ruhe ihren Drogengeschäften nachgehen können.“ Die Kids von Gallanstown erzählen eine ganz andere Geschichte. „Die Bullen halten uns alle für Abschaum“, sagt ein etwa 16jähriger, „und das sagen sie dir auch ins Gesicht. Ich bin neulich, gar nicht weit von hier, mit meinem Rad bei Rot über eine Kreuzung gefahren. Ein Bulle auf einem Motorrad hat mich erwischt. Ich mußte meine Adresse nennen, und er sagte, ich gehörte also zu diesem Abschaum. Dann hat er mir einen Strafzettel verpaßt. Würde ich woanders wohnen, hätte er mich höchstens ermahnt.“

Inzwischen haben sich acht oder neun Kinder um den 16jährigen versammelt, ein paar andere kicken im fahlgelben Licht der Straßenlaterne mit einem Plastikball. Er hoppelt über die künstlichen Bodenwellen, die alle paar Meter aufgeschüttet sind. „Damit die Joyrider nicht so schnell fahren können“, erklärt ein Zehnjähriger. Hat er schon mal in einem geklauten Auto gesessen? „Klar“, winkt er ab, „schon oft.“ Angeber, meint sein Kumpel. Irgendwo klingelt eine Alarmglocke. Niemand schert sich darum.

Gallanstown ist nur 20 Minuten vom Zentrum entfernt – und es riecht nach Pferdemist. Die Gehwege und Fahrbahnen, die kleinen Vorgärten und das Brachland – alles voller Pferdemist. Rund ein Dutzend Tiere grasen zwischen den ausgebrannten Autowracks auf dem Feld neben dem Cherry Orchard Crescent, genauso viele laufen einfach auf der Straße herum. „Das ist besser als Autos klauen“, meint die Sozialarbeiterin Grace Maguire, „sie gehen rührend mit den Pferden um.“ Abends laufen sie mit Plastikeimern bis zu den Läden in Ballyfermot und betteln um angefaulte Karotten und Äpfel für die Tiere.

„Manche weinen, wenn ich nach dem Fahrgeld frage“

Um ein Pferd kaufen zu können, sparen die Kinder das Geld, das sie zu Weihnachten, zum Geburtstag und zur Konfirmation bekommen. Für viele reicht es nie. „Manche Kinder fangen an zu weinen, wenn ich sie nach dem Fahrgeld frage“, sagt Marian Doyle, die einen billigen, privaten Schulbus organisiert hat. „Manchmal erzählen sie, daß zu Hause der Strom abgestellt worden ist. Wer 130 Pfund Stütze in der Woche bekommt, kann davon schlecht 15 Pfund für den Schulbus für seine Kinder abzweigen. Deshalb sind viele ganz froh, wenn die Kinder mit 14 sagen, daß sie nicht mehr zur Schule wollen.“

Dieser Kreislauf sei ein viel größeres Problem als der Drogenhandel, meint die Sozialarbeiterin Anne, die ihren Nachnamen nicht nennen will. „Die meisten Familien versuchen, mit ehrlichen Mitteln über die Runden zu kommen“, sagt sie. „Natürlich gibt es hier auch Drogenhändler und Krawallmacher, es wäre ja auch ein Wunder, wenn es bei diesen Lebensbedingungen anders wäre. Diese Siedlungen dienen der Aufbewahrung unerwünschter Personen, kein Mensch aus den besseren Stadtteilen kann sich auch nur annähernd vorstellen, wie es hier aussieht. Und solange die Leute nur in ihrem eigenen Viertel krakeelen, kümmert das keinen Politiker. Aber wenn nicht bald etwas geschieht, schaffen die Jüngeren den Absprung auch nicht mehr. Höchstens nach da drüben.“ Dabei zeigt sie auf das Wheatfield-Gefängnis am Horizont.

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