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„Unglaublich, daß der hier redet“

■ Wie der Vulkan-Zusammenbruch ein Thema auf der SPD-Delegiertenkonferenz in Bremen-Nord wurde

„Eine Region steht auf“, steht auf dem mindestens vier Meter großen Transparent über dem Rednerpult im Bürgerhaus Vegesack, „eine Region will leben. Eine Region will arbeiten.“ Alles in GROSSBUCHSTABEN. Unten am Rednerpult: Friedrich Hennemann, der auf Druck der Banken ausgeschiedene Konzern-Vorstandsvorsitzende. Hennemann ist hundertprozent sachlich, wie immer. Wenige Stunden vor Beginn des Parteitages hatte er den noch amtierenden UB-Vorsitzenden Detmar Leo angerufen und gesagt, daß er reden wolle. Das war formal nicht nötig gewesen, Hennemann ist nämlich von „seinem“ Ortsverein Lüssum zum Delegierten für die Landes- und die Unterbezirksparteitage gewählt worden. Aber Hennemann ist eben auch super korrekt.

Eigentlich stand das Thema, das derzeit Bremen-Nord wie keinen anderen Stadtteil Bremens durchschüttelt, überhaupt nicht auf der Tagesordnung. Stattdessen: Kassenbericht, Entlastung des Vorstandes, Entlastung des Kassierers, Wahl einer Wahlkommission, Wahl des neuen Vorstandes, alles wichtige Punkte. Auch Leo hatte das Vulkan-Thema nur vage angesprochen: die „Macht des Faktischen und nicht die Macht der Visionen“ würden nun durchschlagen, hatte er erklärt und darauf verwiesen, daß der Vergleichsverwalter in eine gähnend leere Kasse geblickt habe.

Hennemann nahm den Ball auf, um sich umfassend zu rechtfertigen. „Unglaublich, daß der hier redet“, schimpfte eine Handvoll von Delegierten, die demonstrativ den Saal verlassen hatten, im Foyer des Bürgerhauses. Aber die klare Mehrheit im Saal gewährte dem großen Friedrich sogar, daß er sich, über die knapp bemessene Redezeit hinausgehend, erklären durfte. Vier „Irrtümer“ prangerte Hennemann an (vgl. „Dokumentation“ Seite 22), und er versicherte, es sei „keinen Pfennig verschwunden“. Beweis: Ende 1995 seien die 850 Millionen für den Rest der Ost-Investitionen im Konzern noch vorhanden und kurzfristig verfügbar gewesen.

1,8 Milliarden Mark für Löhne und Gehälter habe der Verbund jedes Jahr „am Weltmarkt verdient“, erklärte Hennemann. Für die „Helden im Senat“ hat er nur untergründigen Spott übrig. Auch am Rande des Parteitages ist Hennemann gefragt. Daß „ich“ verbindet sich mühelos wieder mit dem „wir“ der Partei. 1989 hatte er zum letzten Male hier auf einem UB-Parteitag gesprochen. Seebeck zum Beispiel, sagt Hennemann zu einer Delegierten, habe „keine Chance“. Der Mecklenburg-Vorpommersche Wirtschaftsminister Ringstorff spekuliere darauf, daß die EG ihm die Quoten zuteile, die in Bremen stillgelegt werden. Er sei aber sicher, daß die EG das nicht tun werde. Hennemann ist hier der einzige, der etwas zum Vulkan zu sagen hat. Aber sein Rat ist ja nicht mehr gefragt. Mit ordentlichem Beifall bedacht begab sich Hennemann wieder auf seinen Delegierten-Platz zurück.

Der UB-Vorsitzende Leo eilte ans Rednerpult und erklärte, er wolle nicht im Detail antworten, er hätte es aber klüger gefunden, wenn Hennemann geschwiegen hätte. Robert Milbradt, Stahlwerke-Betriebsrat, malte das Schicksal der Vulkanesen in düstersten Farben („Es wird Selbstmorde geben“). Margitta Schmidtke, die die Haushaltskasse eines Vulkanesen unter sich hat, beschrieb eindrucksvoll die materiellen Ängste ihrer Familie. Und dann wandte sich der Parteitag wieder den Fragen nach dem Rechenschaftsbericht, dem geleasten PKW und der Frauenquote zu. Und der Wahl des neuen UB-Vorsitzenden. K.W.

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