: Ein kühl geplanter Mythos
Die Diaspora substituiert mit Eishockey: Nach dem 5:4 im vierten Viertelfinale gegen Berlin gibt es in Kassel nur noch Huskies-Fans ■ Aus Kassel Matthias Kittmann
Wenn Systeme versagen, bleibt kein Auge trocken. 59:09 Minuten lang schien die schwedische Taktik der Berliner Preussen Devils bei den Kassel Huskies aufzugehen: selbst nichts riskieren und auf die Fehler des Gegners warten. 4:3 führten die Preussen im vierten Viertelfinal-Play-off-Spiel bis zu dieser Schlußminute, hatten ihre wenigen Chancen kühl ausgenutzt und dabei auch von einer umstrittenen Entscheidung bei ihrem vierten Tor profitiert. Doch dann kam der Last-Minute-Thrill der Huskies, jenes unerklärliche und doch wieder zwingende Ereignis, durch das die Huskies viele ihrer Spiele in letzter Sekunde doch noch aus dem Feuer reißen. Schon beim 3:0-Sweep gegen die Frankfurter Löwen war ihnen die Entscheidung jeweils in der letzten Minute gelungen.
Diesmal stocherte Tino Boos den Puck zum Ausgleich ins Tor. Wen der Sudden death in der nun notwendigen Verlängerung ereilen würde, war danach klar. Gelähmt ließen die Berliner zu, wie Kassel über sie hinwegrollte und Kapitän Dave Morrison mit seinem dritten Tor zum Sieg nach 9:15 Minuten Overtime traf und die Serie 2:2 ausglich.
Preussens Trainer Curt Lundmarks Gesicht versteinerte vor Entsetzen, während die Huskies- Fans für einen Moment das Jubeln vergaßen, so baff waren sie über diese sensationelle Energieleistung ihres Teams. Dann ließen manche ihren Freudentränen freien Lauf.
Das braucht nun keinen wundern: Eishockey ist in Kassel nicht irgend etwas. Und in der Play-off- Runde der Deutschen Eishockey Liga (DEL) werden aus den Huskies Kampfhunde. Erst recht, wenn sie, wie im Achtelfinale geschehen, gegen die verhaßten „Millionäre“ der Frankfurt Lions spielen – und gewinnen. Der Kasselaner als solcher nämlich lehnt alles Südhessische und besonders Frankfurterische zutiefst ab. Deshalb war es für die von Minderwertigkeitskomplexen gequälte nordhessische Seele der eigentliche Triumph, den Frankfurtern eines auf die Mütze zu geben. Mehr noch: Man bezieht daraus auch Atem für die nächsten Aufgaben.
Auch die Spieler sind von dieser einzigartigen regionalen Euphorie angesteckt worden, wiewohl sie alle selbst nur Zugereiste sind: aus Kanada, Amerika, Polen, Tschechien, Tscheljabinsk, Düsseldorf oder Weißwasser. Doch wer in Kassel unterschreibt, merkt bald, daß die von Klima und Landesregierung nicht gerade verwöhnte Stadt keine x-beliebige Legionärsstation ist. Nicht alle sind Eishockey-Fans, aber alle sind Huskies- Fans. Die Verantwortlichen pflegen das Image. Als die Namen der Eishockeyklubs in der DEL aufgepappt wurden, gelang den EC Kassel-Machern ihr vielleicht genialster Marketing- und Imageschachzug. Nicht Löwen, Tiger oder Panther, nein, „Huskies“ traf die Befindlichkeit aufs beste. Der zähe, listige Hund, der so manchen größeren Gegner kräftig ins Bein beißen kann – wie die Preussen gerade leidvoll erfahren haben –, wohnhaft am Polarkreis oder in (Hessisch-) Sibirien.
Geplant ist dieses, eine Region mobilisierende Konzept jedoch mit kühlem Kopf. Natürlich hüten sich die Verantwortlichen, es direkt auszusprechen, aber der Mythos Kassel wird genauso vermarktet wie das Arbeiterimage von Borussia Dortmund. Trotzdem macht Vizepräsident Gerhard Swoboda keinen Hehl daraus, „daß wir mit Eishockey Geld verdienen wollen“. Der Mann ist im Hauptberuf leitender Angestellter bei der Mercedes-Benz-Niederlassung in Kassel, die wiederum Trikotsponsor ist. Stolz sagt Swoboda, daß „wir wahrscheinlich der am besten vermarktete Klub in der Liga sind“.
Muß er auch sein, denn umsonst spielt auch oder gerade in Kassel keiner. 7,5 Millionen Mark beträgt der offizielle Etat der Huskies, und damit sind die Nordhessen durchaus im gehobenen Mittelfeld angesiedelt.
Deshalb waren die bisherigen vier Play-off-Heimspiele zwar nicht eingeplant worden, „aber wir konnten die Einnahmen gut gebrauchen“, gesteht Manager Uli Egen, „sonst wäre es etwas knapp geworden.“ Ex-Nationalspieler Egen (39) hat an Kassels kleinem Aufschwung gehörigen Anteil. Denn mit dem Gespür für das Richtige hat er es immer wieder geschafft, Spieler mit Leidenschaft und Können nach Kassel zu holen. Spieler wie Dave Morrison, Mike Millar, Greg Johnston oder Greg Evtushevski, die auch das richtige Play-off-Herz mitbringen.
Allerdings werden die Eishockey-Gesetze in Kassel nur gelegentlich außer Kraft gesetzt. Das mußte Ross Yates erfahren, der mitten in dieser Saison vom arbeitslosen Branchenstar Hans Zach ersetzt wurde. Der forderte gleich vier neue Spieler und bekam sie. So zufrieden gestellt, gibt er auch schon mal dem Huskie Zucker. Die Serie ist noch nicht zu Ende; erst morgen kommt es in Berlin im fünften Spiel zum finalen Showdown. Für eines der beiden Teams. Dennoch hat Zach seine Spieler bereits eine Ehrenrunde laufen lassen. Im Stile eines Volkstribuns hat er die Begründung gleich mitgeliefert: „Wir sind jetzt schon die wahren Meister.“
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