Tödliche Eingriffe bei Komapatienten

Die Bundesärztekammer diskutiert über eine Neuregelung der Sterbehilfe  ■ Von Klaus-Peter Görlitzer

Hinter verschlossenen Türen beraten gegenwärtig sieben ausgewählte Mediziner und Juristen, was der Vorstand der Bundesärztekammer (BÄK) spätestens im Dezember beschließen will: die Neufassung der „Richtlinien für die ärztliche Sterbebegleitung“. Zur Überarbeitung veranlaßt sieht sich die BÄK nach Darstellung ihres Vizepräsidenten Jörg-Dietrich Hoppe durch drei Ereignisse aus den Jahren 1994 und 1995: ein Urteil des Bundesgerichtshofes zum „Behandlungsabbruch bei einer entscheidungsunfähigen Patientin“, die Verabschiedung neuer medizinisch-ethischer Richtlinien für die Sterbehilfe in der Schweiz und die Ausweitung ärztlicher Tötungen in den Niederlanden. Sollte sich die Vertretung der deutschen Ärzteschaft diesen Vorbildern anpassen, kann das für Tausende tödliche Folgen zeitigen. Schon die geltenden BÄK-Richtlinien lassen die sogenannte „passive Sterbehilfe“ zu. Erklärtes Ziel ist die „Linderung des Leidens“ des Patienten, etwa durch Verabreichung von Schmerzmitteln, deren Nebenwirkungen zur Verkürzung des Lebens führen können. Dies soll erlaubt sein bei Menschen, deren Tod unmittelbar bevorsteht, sowie bei „Neugeborenen mit schweren, mit dem Leben nicht zu vereinbarenden Mißbildungen“.

Der Beschluß zur Richtlinien- Überarbeitung sei, sagt Professor Hoppe, „ein Signal, daß man einen Schritt weitergehen will“. Derzeit erörtert der BÄK-Ausschuß für medizinisch-juristische Grundsatzfragen“ laut Hoppe, ob Ärzte lebenserhaltende Maßnahmen künftig auch bei Menschen abbrechen dürfen sollen, die sich gar nicht im Sterbeprozeß befinden, etwa bei komatösen PatientInnen.

Diesbezügliche Skrupel hat die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) 1995 aufgegeben. Wem Ärzte nach mehrmonatiger Beobachtungszeit bescheinigen, seine Bewußtlosigkeit sei unwiderruflich, der muß in Schweizer Krankenhäusern gemäß SAMW-Richtlinien mit tödlichen Eingriffen rechnen: Entzug der künstlichen Zufuhr von Wasser und Nahrung, Abbruch von Beatmung und Medikation, Verzicht auf Bluttransfusion und Dialyse.

Dabei räumen selbst Mediziner ein, niemand könne vorhersagen, wie lange ein Komazustand anhält, ob der Betroffene das Bewußtsein wiedererlangen oder ob er sterben wird. „Diese Patienten verhungern zu lassen, das ist Mord“, protestiert der deutsche Selbsthilfeverband der Schädel-Hirn-Patienten in Not; er wertet die Schweizer Vorgaben als „schier unfaßbar sowie ethisch und moralisch verwerflich“.

Gleichwohl lesen diverse Interpreten aus einem Urteil des Bundesgerichtshofes (BGH) vom September 1994 heraus, daß es nun auch in Deutschland Rechtens sein könne, PatientInnen verhungern zu lassen. Der BGH vertrat im Fall einer seit zweieinhalb Jahren bewußtlosen Frau die Auffassung, daß „ausnahmsweise ein zulässiges Sterbenlassen“ durch Einstellung der Ernährung via Magensonde „nicht von vornherein ausgeschlossen ist, sofern die Patientin mit dem Abbruch mutmaßlich einverstanden ist“. Seitdem sieht die Bundesärztekammer Klärungsbedarf. „Ob der Entzug von Flüssigkeit, Wasser und Nahrung“, so Hoppe, „gleichzusetzen ist mit Töten oder ob dies ein duldbares Sterbenlassen ist – diese Diskussion müssen wir auch führen.“ Das Ergebnis des beratenden Ausschusses, dem Hoppe selbst angehört, könne er nicht vorhersagen; persönlich lehne er das Verhungern- und Verdurstenlassen komatöser Menschen als eine Form aktiver Euthanasie ab.

Gedanken macht sich der BÄK- Ausschuß zudem darüber, „wie man“, so Hoppe, „den Vorgang des Sterbens und seinen Eintritt definiert“. Als „Sterbenden“ bezeichnen die geltenden BÄK- Richtlinien einen Kranken oder Verletzten, „bei dem der Eintritt des Todes in kurzer Zeit zu erwarten ist“. Nun werde beraten, „ob der Begriff ,kurze Zeit‘ anders ausgedrückt werden muß“.

Wie folgenschwer eine Umdefinition sein kann, zeigen die Schweizer Richtlinien: Demnach gilt ein Mensch bereits als Sterbender, wenn seine Krankheit oder irreversible Schädigung „trotz Behandlung in absehbarer Zeit zum Tode führt“. Was unter „absehbar“ zu verstehen ist – Stunden, Tage, Wochen oder auch Jahre –, sagen die SAMW-Vorgaben nicht. Klargestellt wird aber: Für Sterbende und Komapatienten bestehen „Ausnahmen von der ärztlichen Verpflichtung zur Lebenserhaltung“.

Professor Hoppe plädiert dafür, daß sich die Bundesärztekammer deutlich abgrenzt von den Regelungen in den Niederlanden. Auch dort ist die aktive Sterbehilfe zwar prinzipiell strafbar. In der alltäglichen Praxis wird jedoch geduldet, was in der Bundesrepublik verboten ist: daß Ärzte ihre PatientInnen auf deren schriftlichen Wunsch töten, ihnen beim Selbstmord helfen und sogar ohne ausdrückliches Verlangen aktive Sterbehilfe leisten. Die Kontrolle setzt spät ein. Erst nach seiner Tat ist der Arzt gesetzlich verpflichtet, die Todesumstände zu melden; im Ermessen der Staatsanwaltschaft liegt es dann, ob sie eine Strafverfolgung einleitet und ein Gericht den Fall überprüft. Dies passiert jedoch sehr selten.

Ungewiß ist, ob Hoppes Zurückhaltung sich durchsetzt – im BÄK- Ausschuß müssen sich schließlich sieben kluge, ausnahmslos männliche Köpfe einigen. Einer von ihnen, der Göttinger Strafrechtsprofessor Hans-Ludwig Schreiber, hat sich vor zehn Jahren einschlägig profiliert – als Mitautor des sogenannten „Alternativentwurfes eines Gesetzes über Sterbehilfe“. Damit propagierte er Regeln, die zu den aktuellen niederländischen und schweizerischen passen. So empfahl Schreiber 1986, „in seltenen, aber tragischen Fällen“ sollten Gerichte bei Tötung auf Verlangen von einer Bestrafung des Arztes absehen können. Und bei Menschen, die ihr Bewußtsein unwiederbringlich verloren haben, wollten Schreiber und Kollegen Abbruch und Unterlassung lebenserhaltender Maßnahmen als „nicht rechtswidrig“ ins Strafgesetzbuch schreiben.

Dazu kam es nicht, der Alternativ-Gesetzentwurf verschwand in der Schublade, für neue Regelungen zur Sterbehilfe sah der Bundestag in den achtziger Jahren keinen Bedarf. Wer diese Position bewahren will, muß sich schnellstens in die redaktionellen Arbeiten der Bundesärztekammer einmischen.