piwik no script img

Der wachgeküßte Froschkönig

Wie RTL, der Lieblingssender der Deutschen, seine Zuschauer mit der schlimmen Welt versöhnt – und seinen Nachrichten allerhöchste Quoten beschert  ■  Von Thorsten Schmitz

Eigentlich haßt Helmut Thoma Journalisten. Die Deutschen lechzten nach Unterhaltung, nicht nach Belehrung. Der Zuschauer, ließ der RTL-Regent bisher gerne verlauten, wolle aus den Nachrichten eigentlich nur erfahren, „ob die Welt noch steht“. Der Rest interessiere ihn nicht.

So kreierte Helmut Thoma in nur zehn Jahren mit „Rammeln Töten Lallen“ (Hausjargon für RTL) den Lieblingssender der Deutschen – und Europas größten Werbeträger. Auf diesem Erfolg könnte sich der Bildschirmfüller ausruhen. Tut er aber nicht. Denn Thoma hat den Vorwurf satt, er betreibe Volksverdummung. Das Lieblingskind von Thoma, RTL, soll ernstgenommen werden.

In den USA hat der Amerika- Fan Thoma gelernt, daß auf Dauer nur Marktführer sein kann, wer auch bei den Nachrichten Marktführer ist. Darum hat der RTL- Boss das Budget für den journalistischen Frontalangriff auf die ihm so verhaßten ARD und ZDF bewilligt – inzwischen verfügt die News-Crew von „RTLaktuell“ über 17 Inlands- und 7 Auslandsbüros, Sat.1 und Pro7 begnügen sich gerade mal mit einem Drittel. An einem durchschnittlichen Wochentag streut der Kölner Privatsender bis zu elfmal seine ganz persönliche Sicht der Welt unters Fernsehvolk. „RTLaktuell“, die Hauptnachrichtensendung um 18.45 Uhr, zieht inzwischen fast so viele Zuschauer in ihren Bann wie die „Tagesschau“: zwischen 5 und 6 Millionen.

Niemand hätte das für möglich gehalten, am wenigsten noch die 30 Redakteure selbst: „Es ist fast schon unheimlich, wie viele Zuschauer wir haben“, sagt einer. Die Plazierung von „RTLaktuell“ ist an der unheimlichen Zuschauergunst nicht ganz unschuldig. Kühl kalkuliert kommt vor den Nachrichten „exklusiv“, ein Klatsch & Tratsch-Magazin, danach „explosiv“, ein Bonanza-Report, der Dramen zwischen Gosse und Grab illustriert. So wattiert, schlittern die RTL-Zuschauer mit Claudia Schiffer und Nadja Auermann vom Pariser Laufsteg („exklusiv“) zu Nachrichtenmoderator Peter Kloeppel („RTLaktuell“) – und landen bei einem Serienmörder („explosiv“). Ohne diesen „luftigen Mantel“, sagt ein Redakteur, hätten die RTL-Nachrichten „nie diese gigantische Quote“.

Und endlich muß Thomas Privat-TV sein Prolo-Image nicht mehr rechtfertigen – die Nachrichten haben RTL ein Gesicht verliehen. Vom Dach des Senders lächeln deshalb die Moderatoren auf ganz Köln: Hier arbeiten Menschen für Menschen, verkünden die Porträtfotos der Nachrichtenmoderatoren Peter Kloeppel und Heiner Bremer zwischen den Satellitenschüsseln. Das Kind hat die Volljährigkeit erreicht.

Voller Neid blicken die konkurrierenden Kollegen von der ARD auf „RTLaktuell“: „Die sind erwachsen geworden.“ Die FAZ hält die konsumentenfreundlichen RTL-Nachrichten für einen „Schrittmacher in Sachen moderne Fernsehinformation“, und Hanns Joachim Friedrichs hat in seinem letzten Interview Peter Kloeppel als „ganz gut“ klassifiziert. Auf dieses Lob verweisen die Redakteure besonders gern.

Tatsächlich beweist die Rekrutierung Kloeppels als Anchorman, wie instinktsicher RTL Quote macht. Kloeppels Physiognomie – eine Mixtur aus Harvard-Absolvent und Allianz-Vertreter – und seine Mimik geben selbst Boulevardmeldungen seriösen Touch. Todernst kündigt er an diesem Donnerstag einen Bericht über Ökogummibärchen und Ökocurrywürste an, so suggeriert er dem Zuschauer: Das muß ich wissen, wenn ich wissen will, was heute passiert ist.

Die Redakteure von „RTLaktuell“ schlachten für ihre Tagesschau vorzugsweise die Bild-Zeitung aus und machen kein Geheimnis aus ihrer Nachrichtenrezeptur: Sie stehen zu Boulevardthemen, die andere Sender verschämt ins Sendeende verstecken. Sie wissen ja auch, daß sie eine ganz andere Klientel bedienen als Dagmar Berghoff. „Wir machen keinen Volkshochschulkurs“, sagt Informationsdirektor Hans Mahr, „sondern wir bemühen uns jeden Tag um ein kleines Gesamtkunstwerk.“ Die Kunst der RTL-Nachrichten besteht in ihrer Dramaturgie aus „Hard News“ und „Soft News“ – aus Meldungen, die man wissen muß, und aus Meldungen, die man nicht wissen muß, aber die die Neugierde befriedigen.

Nur Information transportieren, das ist bei RTL tabu. Nachrichten werden bei „RTLaktuell“ gehandelt wie leicht verderbliche Waren: Sie müssen einen Gebrauchswert haben und appetitlich sein. RTL hat den höchsten Marktanteil bei den 14- bis 49jährigen, höchst kauffreudigen Konsumenten. Die will man bei Laune halten. Der Zuschauer soll bis zum Ende der Nachrichten dranbleiben – inklusive der Werbeblöcke. Denn, so Thoma: „Wir sind ein Transportunternehmen. Wir bieten Transportkapazitäten von A nach B.“ B ist der Zuschauer, A ist der Werbekunde. RTL garantiert A genügend B.

Bei der Jagd auf die Quote scheut „RTLaktuell“ weder Mühen noch Kosten, denn „aktuell“ heißt Präsenz. Als Lafontaine auf dem SPD-Parteitag Scharpings Parteivorsitz ergattert, chartert die Redaktion einen Privatjet – fünf Stunden nach der Skandalwahl moderiert Peter Kloeppel die Nachrichten live aus dem Mannheimer Kongreßzentrum. RTL ist an diesem Tag der erste Sender, der den neuen Parteivorsitzenden im Interview zeigt.

Auch beim Attentat auf Israels Ministerpräsidenten Rabin taktiert Thomas TV-Truppe volljährig: Noch in der Nacht fliegen Kloeppel, eine Producerin und ein Chef vom Dienst nach Tel Aviv, um zwölf Stunden nach Rabins Tod live aus Jerusalem den Schwerpunkt der Nachrichtensendung zu moderieren. So schnell war niemand.

Siegesgewiß lehnt sich Mahr zurück, wenn er von den Großtaten seines Senders berichtet. „So flexibel wie wir werden ARD und ZDF nie“, glaubt Mahr. Überhaupt ist er angetreten, die deutschen Nachrichten zu revolutionieren – und die Quoten geben ihm recht.

Die „Tagesschau“ mit ihrer „Nachrichten-Barbie“ Dagmar Berghoff ist für ihn ein „systemerhaltender elektronischer dpa-Ticker“. In sich schlüssig und „grenzgenial“ zwar, aber eben doch ein Nachrichtenverkünder, kein Nachrichtenmacher: „Die ,Tagesschau‘ teilt täglich mit, was die Politik für mitteilungswürdig empfindet.“

„RTLaktuell“ dagegen macht Nachrichten, die das Volksempfinden spiegeln. Der Sender funktioniert als Volksempfänger, der Volkes Stimme und Volkes Sicht aufnimmt und wieder ausspuckt. An diesem Donnerstag wird im Bundestag über die Rekordarbeitslosenquote diskutiert – an den „Opfern vorbei“, wie „RTLaktuell“ findet. So warnt Moderator Kloeppel seine Zuschauer: Nehmt die Parolen nur ja nicht ernst!

Nach dem Filmbericht befragt er Ernst-Dieter Lueg, der für RTL die Bonn-Politik analysiert, nach dem „Wahlkampfgetöse“. Brav spricht Lueg dem zuschauenden Volk aus der Seele: „Was sollen nur 4,3 Millionen Arbeitslose davon halten, daß der Bundestag über rot-grüne Bündnisse streitet. Es ist schlimm, was sich die Politiker heute geliefert haben.“ Soweit die Analyse von Ernst-Dieter Lueg, früher Westdeutscher Rundfunk, heute, neben Peter Scholl-Latour und Johannes Gross, teuer eingekauftes Aushängeschild für „RTLaktuell“. „Die sind unsere Feigenblätter“, sagt eine Cutterin im Raucherflur. Vielleicht stimmt es sogar, daß die RTL-Macher ihren eigenen Gesichtern nicht so recht trauen wie den öffentlich-rechtlichen: „Wir haben die Grundkompetenz“, sagt Info-Boss Mahr, früher Kronen- Zeitung und Kreisky-Referent, „die drei Analytiker liefern uns den hundertprozentigen Bonus.“

Am Mittag steht der Aufmacher für die Abendsendung endlich fest – weil es schön spannende Bilder gibt. Die Bundesregierung hat einen Zwischenbericht zum Absturz der Birgenair-Maschine in der Dominikanischen Republik veröffentlicht – mit lauter vagen Vermutungen über die Unglücksursache. Sabine Kronzucker, deren Vater für Konkurrent Sat.1 aus Washington berichtet, hat die Aufgabe, die Spekulationen „ohne Panik zu verbreiten“, zu illustrieren. Sie strickt am Abend einen Absturzkrimi: Bilder aus dem Cockpit einer startenden Maschine, ein Pilot, der den Steuerknüppel wackeln läßt, eine Sirene, die Alarm fiept, ein virtuell abstürzendes Flugzeug, das in der karibischen See schmatzend zerbricht, für Info- Boss Mahr noch nicht laut genug: „Es muß richtig krachen!“ mahnt er.

Während alle Welt noch rätselt, weiß auf jeden Fall der RTL-Zuschauer nun, warum – erstens, zweitens, drittens – das Flugzeug abgestürzt sein muß. Eine offizielle Stellungnahme fehlt in Kronzuckers Krimi: Das Interview mit dem Sprecher der Pilotenvereinigung „Cockpit“ kommt nicht zustande.

Erst nach der Rekonstruktion der Katastrophe kommen Lueg und Bundestag zu Wort, das Bildmaterial ist nicht atemberaubend genug. „Politiker im Bundestag haben die Wirkung einer Schlaftablette“, hat ein Redakteur ermittelt. Leider läßt sich an diesem Tag Egon Krenz nicht dazu überreden, zum FDJ-Jubiläum ein blaues Hemd überzustreifen – RTL möchte seinen Zuschauern doch so gerne den Menschen hinter dem Politiker zeigen. Krenz spielt nicht mit, „schade“, sagt der Redakteur. „Wäre ein schönes Bild gewesen.“ Für die treuesten RTL-Fans. Die sitzen in Ostdeutschland, das hat eine Umfrage ergeben.

Jeden Tag eine gute Tat – getreu dieser Senderphilosophie hält Kloeppel am Abend eine Meldung für drei Millionen Deutsche parat, deren Haut juckt. Kaltes UV-Licht heilt Neurodermitis. „Wir können nicht eine halbe Stunde lang nur Hard News bringen“, sagt Mahr, das übersteige das Konzentrationsvermögen des RTL-Kunden. RTL will seine Zuschauer nicht mit zu vielen Meldungen belästigen, „wir wollen sie ihnen auch an die Hand geben, daß er was damit anfangen kann“, sagt ein Redakteur. Christof Lang, der Chef vom Dienst und Komponist von „RTLaktuell“ an diesem Donnerstag, spielt täglich den Vorschullehrer: „Unsere Nachrichten sollen auch für weniger Gebildete zugänglich sein, ohne daß es dümmlich wird.“ Seinen Spagat skizziert er so: „Nachrichten müssen unterhalten, sie dürfen nicht nur politisch, aber auch nicht blutleer sein.“ Der Bericht über blaues Licht für aufgekratzte Haut ist einer dieser Glücksfälle: leichtes Thema, das drei Millionen Deutsche interessiert. „Man muß auch mal weg von der schlimmen Welt.“

Ganz großen Kollegenapplaus erhält nach der Sendung Christian Häckl, der Wetterconferencier. Seine Klimapoesie, in der „Frost vom Feinsten“ und „harmlose Quellwölkchen“ vorkommen, gipfelte in dem Schlußsatz: „Mir scheint fast, der diesjährige Frühling ist ein kleiner grüner Froschkönig, der erst noch wachgeküßt werden will.“

Das Wetter fällt bei „RTLaktuell“ in die Rubrik „Hard News“.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen