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Roubaix steht noch unter Schock

Nach dem jüngsten Großeinsatz der französischen Polizei, der vier Tote und zwei Verletzte forderte, rätseln die Behörden über mögliche politische Hintergründe  ■ Aus Roubaix Dorothea Hahn

Die „guten alten Gewohnheiten“ werden sicher bald wieder Einzug halten, witzelt ein Polizist in Roubaix. Vorerst aber ist die nordfranzösische Stadt im Schockzustand. Seit Tagen hat es keine Überfälle gegeben und keine nächtliche Randale. Abgesehen von einigen Kieselsteinchen, die am Dienstag abend von Dächern im Stadtteil Alma auf die Polizisten heruntergingen, deren Sprengstoffexperten einen gestohlenen Wagen entschärfen wollten, der sich dann als harmlos erwies.

Die „jüngsten Ereignisse“ sitzen den Roubaisiens in den Knochen. Denen im Rathaus und auf dem Kommissariat genauso wie den Bewohnern der „nördlichen Viertel“, wo über 50 Prozent unter 25 Jahre jung sind und von denen über 40 Prozent keine Arbeit haben. Daß die soziale Lage in jenen Vierteln der 100.000-Einwohner- Stadt an der belgischen Grenze brenzlig war, wußten alle. Bekannt war auch, daß islamistische Ideen an Terrain gewinnen und daß die „gewöhnliche Delinquenz“ zunimmt. Doch die explosive Verbindung von „Verarmung, Schwerverbrechen und islamischem Fundamentalismus“ kam überraschend. Für Innenminister Debré war der Zusammenhang so abwegig, daß er ihn öffentlich ausschloß. Im ersten Moment. Inzwischen spricht auch sein Ministerium von einem möglichen politischen Hintergrund der Schießerei.

Die Stadt Roubaix, wo jetzt täglich Hausdurchsuchungen stattfinden, ist auf den Titelseiten der französischen Medien. Nach Vaulx-en-Velin bei Lyon, wo der von der Polizei erschossene Khaled Kelkal herkam, dem mehrere Attentate aus dem letzten Sommer zur Last gelegt werden, gilt nun Roubaix als neue Hochburg militanter Islamisten in Frankreich.

Am vergangenen Freitag hatten Vermummte der Polizeitruppe Raid versucht, ein Reihenhaus in dem Stadtteil Alma zu stürmen. Aus dem Inneren kamen Schüsse aus schwerem Kriegsgerät zurück. Der Kampf dauerte 30 Minuten. Am Ende waren zwei Polizisten verletzt, das Reihenhaus war bis auf die Grundmauern abgebrannt, und aus den rauchenden Trümmern wurden vier Leichen geborgen, von denen bis heute nur drei identifiziert sind. Ein fünfter Mann aus der Gruppe starb am selben Tag nach einer Schießerei mit der belgischen Polizei. Sein Komplize setzte die Flucht allein fort, nahm zwei Frauen als Geiseln und ergab sich mehrere Stunden später.

Omar Zemmiri, der sich heute in Belgien in Haft befindet, ist der einzige Überlebende der Gruppe von Roubaix. Der Mittfünfziger war Mieter des roten Backsteinhauses in der Rue Henri Carrette Nummer 59 im Stadtteil Alma. Die Nachbarn kannten ihn sowie seine erst vor kurzem nach Algerien zurückkehrte Frau und die beiden Kinder als ruhige, wenig mitteilsame Menschen. Von den rund 20 Jahren jüngeren Männern, die nun tot sind, wußten sie nichts.

Inzwischen ist bekannt, daß sie algerische und marokkanische Pässe hatten – mit Ausnahme des 27jährigen Medizinstudenten Christophe Cazé, ein waschechter Eingeborener aus Nordfrankreich, der erst vor wenigen Jahren zum Islam übergetreten war. Bei einer Bosnienreise mit einer humanitären Organisation soll er Kontakte zu militanten islamistischen Kreisen geknüpft und den Transport der schweren Waffen nach Roubaix organisiert haben. Der junge Franzose gilt bei den Ermittlern heute als Kopf der Gruppe.

Gangster oder radikale Islamisten?

Bis vor einer Woche machte die Polizei die Gruppe für ein paar stümperisch ausgeführte und allesamt mißlungene Überfälle auf Geldtransporter und Supermärkte in der Region verantwortlich. Bei der Verbrechensserie hatten die Täter einen Lkw-Fahrer verletzt und einen Autofahrer erschossen. Aber auf die hohe Gewaltbereitschaft war die Polizei trotzdem nicht vorbereitet. Die Täter galten als „Gangster“, sie wurden beschattet und sollten nach dem Gipfel der Arbeitsminister der G7-Länder in der benachbarten Stadt Lille in aller Ruhe festgenommen werden. Dann kam das Attentat von Lille. Nur drei Tage vor dem G7-Gipfel explodierte ein weißer Peugeot auf dem Parkplatz des Polizeikommissariats. Dabei entstand nur ein kleiner Sachschaden, weil die drei Gasflaschen im Wageninneren nicht hochgingen. Doch die Polizei fühlte sich berufen, sofort zur Tat zu schreiten, als sie auf die Spur der ihnen längst bekannten „Gangster“ stieß. Am nächsten Morgen kam es zu der Schießerei von Roubaix.

Politisch interessant wurde die Affäre erst, als Propagandamaterial der algerischen „Bewaffneten islamischen Gruppe“ in den Trümmern des Reihenhauses und in dem Fluchtauto in Belgien gefunden wurde. Später wurde bekannt, wie enge Kontakte die „Gangster“ von Roubaix zu fundamentalistisch-islamischen Kreisen in Frankreich und Belgien hatten. Inzwischen vermutet die Polizei, daß sie auf eine neue Art von Beschaffungskriminalität für militante islamistische Zwecke gestoßen ist: Die Täter von Roubaix sollen nach dieser aktuellen Version erst Kleinkriminelle gewesen und dann für politische Zwecke vereinnahmt worden sein. Bei den Pariser Untersuchungsrichtern, die auf Terrorismus spezialisiert sind, hat die neue Affäre böses Blut gemacht. Getreu der ersten Verharmlosung der Schießerei entschied das Innenministerium, die Ermittlungen in den Händen der örtlichen Staatsanwaltschaft zu belassen. Die behandelt die Angelegenheit jetzt unter dem Stichwort „Delinquenz“.

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