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Die Nachrichtenfabrik

„Tagesschau“ und „Tagesthemen“ sind ein Traditionsbetrieb, keine Modeboutique. Was ihre Sprecher verkünden, ist nichts anderes als die Wahrheit  ■ Von Thorsten Schmitz

Ein Besuch bei der „Tagesschau“ ist wie ein Besuch bei den Eltern – er beginnt mit einer Enttäuschung. Man kommt nach Hause – und nichts hat sich verändert. Selbst nach 14.579 Tagesschauen trotzt die Schaltzentrale der einflußreichsten Nachrichtensendung standhaft jeden Moden.

Die über 200 Angestellten von ARD-aktuell stricken am Mythos „Tagesschau“ in Räumen, die den Charme einer Behörde haben. Der „Mercedes unter den Nachrichtensendungen“ (Chefredakteur Ulrich Deppendorf) parkt im historisch ältesten Rundfunkgebäude Deutschlands, in einem Flachbau neben dem NDR in Hamburg- Lokstedt. Die Schlauch-Gänge haben beige Patina angelegt, der Filzfußboden ist durchgetreten, das Interieur der winzigen Redakteursstuben wurde vor zwanzig Jahren das letzte Mal ausgewechselt. Im Herzen von „Schau“ und „Tete“, so das hausinterne Kürzel für „Tagesschau“ und „Tagesthemen“, herrscht optische Tristesse.

Auch inhaltlich widerstehen die Fundamente des Ersten Deutschen Fernsehens dem Mainstream. Eine Dagmar Berghoff vor einem vollcomputerisierten Großraumbüro wird es nie geben, ARD-aktuell ist ein Traditionsbetrieb, keine Modeboutique. Als vor drei Jahren die Eröffnungsfanfare eine Spur rockiger ertönte, bangte die gesamte Redaktion vor der Reaktion. „Wir befürchteten“, erinnert sich Ulrich Deppendorf, „die Nation explodiert.“ Die Empörung der Zuschauer, die noch jede Dauerwelle von Dagmar Berghoff kommentieren, blieb überraschenderweise aus.

Das Geheimnis der „Tagesschau“ liegt in ihrer Konstanz. Nicht die Form diktiert den Inhalt, sondern der Inhalt die Form. Auch am Tag des Weltuntergangs würde es um Punkt acht heißen: „Hier ist das Erste Deutsche Fernsehen mit der ,Tagesschau‘. Soeben ist die Welt untergegangen.“ Unheimlich glaubwürdig ist die „Tagesschau“ auch deshalb, weil ihre Sprecher die Nachrichten regungsfrei verlesen. An diesem Montag abend wird Eva Herman 71mal auf das Papier und dann wieder in die Kamera blicken, 71mal in 15 Minuten. Das Verlesen hat etwas Amtliches.

Das zweite Geheimnis der „Tagesschau“: Ihre Angestellten wissen und machen alles besser. Dem Diktat des Populismus unterliegen die Privaten, „wir“, sagt ein „Wort“-Redakteur, „schaffen erst gar nicht das Bedürfnis nach Boulevard“. Für rund neun Millionen Deutsche sind „Tagesschau“ und „Tagesthemen“ die Hauptinformationsquellen. Was Chefsprecherin Dagmar Berghoff und ihre Kollegen um 20 Uhr ablesen, ist nichts als die Wahrheit, was Ulrich Wickert und Sabine Christiansen offerieren, gilt als die seriöse Analyse der Wahrheit.

Ihren Stolz verinnerlichen die Nachrichtenpächter: „Wir sind extrem wichtig“, sagt der Leiter der „Film“-Redaktion, Andreas Pawlouschek, „das motiviert.“ Und stets streben sie nach Perfektionierung des Originals. Ein Fehler, sagt „Tagesthemen“-Chef Jay Tuck, „darf uns nicht passieren“. Wenn ihm einer unterlaufe, gehe er „bibbernd“ auf die Konferenzen.

Das Geld für Perfektion haben sie, und deshalb lächeln sie über die Attacken der Privaten auf die 20-Uhr-Bastion. Das Guthaben von ARD-aktuell sind die 25 Korrespondenten zwischen Washington und Peking, Riga und Johannesburg, die in der ARD zusammengeschlossenen Inlandsstudios – und ein untrügliches Gespür. Als die Nachrichtenagenturen an diesem Montag von einem erneuten Anschlag in Jerusalem berichten, bleibt „Film“-Chef Pawlouschek kühl: „Wenn Araber einen Anschlag verüben, dann fahren sie nicht mit dem Auto in eine Bushaltestelle.“ Am Abend steht fest, daß ein US-Tourist die Kontrolle über sein Auto verloren hatte. „Ich hab's gewußt!“ Pawlouschek begießt seinen Triumph mit einem Glas Sekt.

Instinktsicher reagierte die Nachrichtenmaschine auch am Tag der Auslieferung des Immobilienspekulanten Jürgen Schneider. Die Planungsredaktion schickte Teams auf die Flughäfen in Miami, Fort Lauterdale und nach Chicago, der USA-Korrespondent saß als einziger Journalist an Bord des Schneider-Jumbos. Hautnah zeigte die ARD Schneiders letzte Reise, die Privaten nur dessen Landung.

Bei ARD-aktuell konzipieren täglich so genannte Planungsredakteure Schau und Tele, sie bereiten den Redaktionen „Film“ und „Wort“ das Menü. Sie bauen aus der Papierflut der Nachrichtenagenturen, den Einfällen der In- und Auslandskorrespondenten und dem Angebot der Bildagenturen morgens um 11 Uhr ein Gerüst für „Tagesschau“ und „Tagesthemen“. Dabei helfen den Planungsredakteuren die sauber in „Wort“ und „Film“ getrennten Redaktionen – die einen schneiden und betexten Filme, die anderen schreiben die Meldungen, die der Nachrichtensprecher verliest. Auf täglich neun Konferenzen wird der Fluß der Nachrichten reguliert, was dem Produkt Objektivität verleiht. Und Kälte: „Wir sind gefühllos“, lästert ein Redakteur aus der Abteilung „Wort“. Die Trennung von Gerhard und Hiltrud Schröder wurde in der „Tagesschau“ mit keinem Wort erwähnt. Ein Fehler, wie die Chefredaktion eine Woche später öffentlichkeitswirksam bedauerte. Auch die „Tagesschau“- Kunden interessierten sich für Politikerehen.

Die erste Konferenz findet jeden Morgen um 11.30 Uhr im Zimmer des Chefredakteurs statt. Acht Planungsredakteure, Ulrich Wickert und die zwei Chefredakteure Deppendorf und Wabnitz stimulieren sich zunächst mit Einschaltquoten – die Sat.1-Nachrichten bleiben bei 1,5 Millionen Zuschauern, Pro 7 verliert stetig, das „heute journal“ auch. Die Herrenrunde vernimmt das mit großer Genugtuung. „Uns“, sagt einer, „kann eben keiner das Wasser reichen.“

Anschlag in Israel, Werftenkrise, Hormonfleisch, Anschlag in Albanien, Koschnicks Rücktritt – viel zu viele ernste Themen. „Das ist alles wieder sehr traurig heute“, seufzt Chefredakteur Deppendorf. Ulrich Wickert macht einen Vorschlag: „Wir können die Zuschauer nicht ohne Bären lassen.“ Die Planungsredakteure sind nicht begeistert, auf der Berlinale seien nur „Mistfilme“ gelaufen. Wickert bleibt stur – „Dann machen wir eben die Mistfilme zum Thema“ – und gewinnt. Die geheime Schaltkonferenz, auf der die Intendanten aller ARD-Anstalten jeden Tag um 14 Uhr mit der ARD-aktuell- Redaktion den „Tagesthemen“- Kommentar bestimmen, kürt die Berlinale zum Kommentar. Am Abend aber beurteilt der Bayerische Rundfunk Koschnicks Rücktritt. „Die haben Angst gekriegt vor einem leichten Thema“, vermutet eine Redakteurin.

Daß Kommentarthemen rausgeschmissen werden, Schreinemakers den „Tagesthemen“ Zuschauer stiehlt, ARD-aktuell über eine vorsintflutliche Technik und ein ebenso altes Bildarchiv verfügt – darüber lamentieren die Redakteure, besonders die jungen. Ein Job bei den Privaten lockt nur wenige: „Ich will nicht verdummen“, sagt ein Redakteur, „und kein Chaos.“ Das sucht man in der Hamburger Nachrichtenfabrik vergebens. Selbst die Meldungen, die ein Bote der Sprecherin Eva Herman an diesem Montag abend während der Sendung hineinreicht, flimmern über den Bildschirm, als hätte ein Redakteur dafür drei Stunden Zeit gehabt. Eine ganz normale Sendung, auf der „Flurschelte“ um 20.16 Uhr wird nur kritisiert, daß der Israel-Korrespondent wieder viel zuwenig Analyse geliefert hat. Deppendorf wird am nächsten Morgen mit ihm telefonieren. So ein triefender Bericht soll nicht wieder vorkommen.

Die Redakteure bei ARD-aktuell sind Nachrichtenbeamte: Sie arbeiten pünktlich, präzise und routiniert. Nichts bringt sie aus der Fassung. Fast nichts.

Ausgerechnet Ulrich Wickert sorgt für Verzweiflung. Er eröffnet die Sendung mit einem Live-Interview. In der Justizvollzugsanstalt Celle hat ein Gefangener zwei Angestellte in seine Gewalt gebracht, Wickert fragt den Korrespondenten vor Ort.

„Wie ist der Stand?“ Die Zuschauer erfahren, daß die Geiselnahme beendet worden ist. Dann will Wickert wissen, ob es stimme, daß eine Geisel vergewaltigt wurde. Der Korrespondent bestätigt das – und ist durch Wickerts dritte Frage völlig irritiert: „Hat es Verletzte gegeben?“ Nein, sagt er, die Geiselnahme sei „unblutig“ vonstatten gegangen.

Während weitere Filmbeiträge laufen, stürmt Jay Tuck ins Studio und macht Ulrich Wickert auf seinen Fehler aufmerksam. Die Telefone liefen heiß, die Zuschauer beschwerten sich, ob denn eine Vergewaltigung keine Verletzung sei. Wickert und Tuck überlegen, was sie tun sollen – viel Zeit bleibt ihnen nicht. Der Regisseur scheucht Tuck zweimal aus dem Bild.

Direkt nach dem Wetter bittet Wickert die Zuschauer „noch einmal zur Geiselnahme in Celle. Das Ende und die Befreiung verliefen unblutig, leider wurde eine Geisel vergewaltigt. Schlimm genug.“

Bis spät in die Nacht beruhigt Jay Tuck aufgebrachte Zuschauer am Telefon. Auf der großen Konferenz am nächsten Tag verdrängt der Fehler das Einschaltquoten- Stimulanz: Wickerts Interview sei eine Katastrophe gewesen, sind sich die Planungschefs einig.

Jay Tuck fehlt in der Runde, er hat sich krank gemeldet.

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