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Die Kohl-Diät: Abspecken für Arme Von Mathias Bröckers

Da die Kohlsche Wirtschaftspolitik mit dem „Modell Deutschland“ das größte Arbeitslosenheer seit der Weimarer Zeit geschaffen hat und ein Ende des Desasters nicht abzusehen ist, stehen mittlerweile selbst grundlegende Errungenschaften des vorigen Jahrhunderts wie die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zur Disposition.

Und hört man Vertreter der Unternehmensverbände oder die frisch gewendeten Wirtschaftsliberalen der FDP, dann muß der Ansatz zur Überwindung der „Krise“ noch weit hinter den Kranken- und Sozialversicherungsstaat Bismarckscher Prägung zurückgehen: mitten hinein in den fröhlichen Aufschwung des Manchester-Kapitalismus. In die Zeiten, als selbst Kinder und Kranke sieben Tage in der Woche malochten, um ihr Abendessen zu sichern und „Lohnnebenkosten“ noch ein Fremdwort waren. Auch ein Rentenproblem gab es damals nicht, denn kaum einer erreichte unter diesen Arbeitsbedingungen überhaupt das Rentenalter.

Wenn von „Flexibilisierung der Arbeit“, von „Umstrukturierung der Wirtschaft“, vom „Fitmachen des Standorts Deutschland“ die Rede ist, umschreiben diese Begriffe nur elegant, wohin die Reise gehen soll: zurück in das freie Industriesklaventum des 19. Jahrhunderts. „Ja aber, was sollen wir denn machen?“ fragt der dicke Kanzler, das Sozialversicherungssystem steht vor dem Bankrott, der Vollkaskostaat ist nicht länger finanzierbar, die Kassen sind leer.

Sind sie das wirklich? Hat sich nicht die Summe der Privatvermögen in der Ära Kohl auf nunmehr 250 Milliarden Mark verdoppelt? Haben deutsche Konzerne in fast allen Wirtschaftsbereichen seit Mitte der 80er nicht ein Rekordgewinnjahr nach dem nächsten hingelegt? Ist nicht allein der Aktienwert dieser Firmen seitdem um über 100 Prozent gewachsen? Wurden bei der Wegrationalisierung von fast 5 Millionen Arbeitsplätzen nicht gigantische Profite erzielt?

Wenn dem aber so ist, und dem ist in allen Punkten so, dann ist die Kasse in Deutschland nur scheinbar leer, de facto wurde sie einfach umverteilt. Und jetzt, wo's nichts mehr zu verteilen gibt, wird nicht etwa von den gemästeten Konzernen und Privatvermögen ihr Scherflein zurückgefordert, im Gegenteil: Die Vermögens- und Unternehmenssteuern sollen abgeschafft werden. „Abspecken“ sollen dagegen die eh schon Ausgezehrten – Arbeitslose, Kranke, Rentner und sozial Schwache.

Als leuchtendes Vorbild werden neuerdings und absurderweise die USA gepriesen, jenes Land, in dem spätestens an der dritten Kreuzung nach dem Flughafen der erste Verelendete mit einem Schild rumhängt: „Arbeite für Essen!“ Daß die „Jobmaschine USA“ ohne Renten- und Sozialversicherungssystem in irgendeiner Weise beispielhaft sein könnte, nur weil die Läden 24 Stunden lang geöffnet haben und ein schlecht bezahlter hispanischer Packer einem die Ware in Tüten verstaut, wer diesen Schwachsinn glaubt, dem empfehlen wir, nur einmal eine halbe Stunde durch die Suburbs von L. A. oder New York zu laufen. Oder besser zu fahren, denn freiwillig laufen dort nur Lebensmüde lang. Wir garantieren einen sicheren Erfolg dieser Kur und eine dankbare Rückkehr in das Land, wo man sonntags keine Milch kaufen kann.

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