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Si is geblibn eine allein

Von den einst reichhaltigen Beständen der Yivo-Bibliothek in Vilnius ist nach den nationalsozialistischen und stalinistischen Vernichtungen wenig übrig. Esfira Bramson will die Reste sichern  ■ Von Arnold Groh

Russische Klänge sind in Vilnius unerwünscht, und wenn auch Deutsch und Englisch nicht weiterhelfen, gilt Jiddisch in Litauens Hauptstadt mittlerweile durchaus als Alternative. Jahrhundertelang eine wichtige Verkehrssprache in Osteuropa, erlebt das Jiddische derzeit eine Renaissance. Nach den Repressionen der Sowjetära, in denen ein einziger Synagogenbesuch den Verlust des Studien- oder Arbeitsplatzes bedeuten konnte, bemühen sich Überlebende des Holocaust, jüdisches Leben wieder in den Alltag zu integrieren.

Freilich können die nichtjüdischen Litauer hier kaum einen Beitrag leisten, selbst wenn sie es wollten. Noch stehen die Barrikaden des Freiheitskampfes in Vilnius und sind längst zur Wallfahrtsstätte geworden für die Menschen, die mit der Mühe ums Überleben den Preis der Freiheit zahlen. Kultur, zumal nichtnationale, ist da zweitrangig. Selbst die Idee des Journalisten Gregorius Smoliakovas, eine jüdische Zeitschrift nicht nur auf jiddisch, sondern gleich viersprachig herauszugeben, hatte wenig Erfolg. 1995, nach fünf Jahren des Erscheinens, mußte Jeruschalajim d'Lite (Litauer Jerusalem) wieder eingestellt werden.

Dabei war Vilnius einst eines der geistigen Zentren jüdischen Lebens in Osteuropa. Das in Berlin gegründete „Jüdische Wissenschaftliche Institut“, nach den hebräischen Anfangsbuchstaben der jiddischen Bezeichnung kurz „Yivo“ genannt, hatte hier seine philologische Abteilung. Bis zum Zweiten Weltkrieg verlagerte sich das Gewicht dieser Institution mehr und mehr nach Litauen. 1939 verleibte Stalin das Baltikum der Sowjetunion ein, 1941 wurde es von Deutschland besetzt, was für die meisten der 57.000 litauischen Juden den Tod bedeutete.

In der Yivo-Abteilung Vilnius waren bis zu dieser Zeit nicht nur Schriften zu unterschiedlichen gesellschaftswissenschaftlichen Bereichen jüdischen Lebens veröffentlicht, sondern es war auch in großem Umfang dokumentiert und archiviert worden. 220.000 Bücher und Periodika, 100.000 volkstümliche Werke, eine Porträtsammlung mehrerer hundert Prominenter, eine Manuskriptsammlung und ein Dokumentenarchiv befanden sich vor der Shoah im Jüdischen Wissenschaftlichen Institut in Vilnius.

Die Nazis schafften einen großen Teil der Bücher und Dokumente beiseite. Sie wurden nach Kriegsende in Frankfurt/Main aufgefunden und in die New Yorker Yivo-Filiale gebracht. Im Institutsgebäude von Vilnius lagerten aber während der Kriegsjahre noch weitere Bücher, darunter auch jiddische, aus anderen Bibliotheken der Stadt. Diesen Bestand verkauften die Deutschen nach und nach an eine Papiermühle.

Die Yivo-Mitarbeiter, die für den Transfer nach Deutschland zuständig waren, schmuggelten zunächst einige der ihnen wertvoll erscheinenden Bücher heraus, um sie an christliche Freunde weiterzugeben, die etliche der Dokumente retteten, um sie kistenweise im Ghetto zu vergraben. Im Yivo-Gebäude selbst wurden eine Menge Bücher hinter den Brettern des Dachbodens versteckt.

Viele der im Ghetto vergrabenen Bücher sind erhalten geblieben; ein umfangreicher Bestand, vor allem Unmengen von Zeitungen, wurde bewahrt und bis zur Unabhängigkeit Litauens in einem Kloster versteckt. Wieder andere Werke, die in Häusern verborgen wurden, gerieten in Vergessenheit, da diejenigen, die den Ort kannten, ermordet wurden. In den letzten Jahren kamen bei Sanierungsarbeiten in der Altstadt immer wieder versteckte Judaika zutage. So gelangten derlei Dinge jetzt in litauischen Privatbesitz.

Vier Jahre lang, von 1945 bis 1949, trug man gerettete Zeugnisse jüdischen Geistes in einem von Juden neugegründeten Museum in Vilnius zusammen. Doch schon nach dieser kurzen Zeit schlug das politische Klima um, und durch stalinistische Terroraktionen wurden wertvolle Dokumente endgültig vernichtet. Jetzt, mit der Unabhängigkeit Litauens, ist das Museum wieder geöffnet.

1989, als sich die Sowjetherrschaft in Litauen dem Ende zuneigte (1992 wurde das Land unabhängig), wurden Bücher, Archivmaterial und Periodika aus der Yivo-Sammlung im litauischen Zentralarchiv zugänglich. Sie hatten in den Kellern die Zeit überdauert. Eine engagierte Frau, Esfira Bramson, begann sogleich mit der Katalogisierung. Bald waren es drei, dann fünf Leute, die an der Erfassung des Bestandes arbeiteten. Zwei aus jener Gruppe betagter Enthusiasten, die das Yivo in gewisser Weise wieder aufleben ließen, sind inzwischen gestorben, zwei weitere sind nach Israel gezogen. Einer von ihnen ist Smoliakovas. Sein Vorname ist jetzt Zvi.

Si is geblibn eine allein. Der Buchbestand, den Frau Bramson betreut, umfaßt rund 40.000 Bände. Zwei bis drei Prozent der ehemaligen Yivo-Bibliothek befinden sich darunter. Das Gros der alten Sammlung lagert gegenwärtig in New York. Die dortige Sammelstelle des Yivo wurde unter Beteiligung des emigrierten Max Weinreich ab 1940 zur Zentrale ausgebaut. Die Katalogisierung des jetzt in Vilnius befindlichen Bestandes wird, wie Frau Bramson hofft, dieses Jahr abgeschlossen sein. Dieser Nachweis über die Existenz der Bücher wird parallel für Yivo New York mikroverfilmt.

Ein weiterer Teil der in Litauen lagernden Materialien besteht aus Briefen, Akten, Dokumenten, Manuskripten. Hiervon wird gemäß eines Instandsetzungsabkommens jeweils ein Drittel nach New York geschickt, um dort restauriert, mikroverfilmt und dann zum Staatsarchiv nach Vilnius zurückgeschickt zu werden. Gegenseitiges Mißtrauen ist der Grund für diese Vorgehensweise. Zur Zeit ist allerdings schon das zweite Drittel in Bearbeitung, so daß auch hier mit einem Abschluß der Erfassung in diesem Jahr gerechnet werden kann.

Das größte Problem stellen jetzt noch die Zeitungen und Zeitschriften dar. In meterhohen Ballen haben sie die Jahrzehnte nur bedingt überstanden und sind nun recht verfallen. Angesichts der immensen Menge wären enorme Anstrengungen nötig, um sie zu restaurieren und einigermaßen zu sichern. Es handelt sich zum Teil um jiddische und hebräische Periodika, vielfach aber um Schriften in „Landsprach“ – in russisch, polnisch und so weiter. Die litauische Seite möchte aber das Material nicht aus der Hand geben, Restauration und Sicherung sollen vor Ort mit Hilfe von Apparaturen durchgeführt werden, die leihweise aus Washington zur Verfügung gestellt werden. Ein entsprechender Vertrag ist jedoch noch nicht unterzeichnet. Zunächst sollen die in Litauen erschienenen Zeitschriften bearbeitet werden.

Die Sicherung des jüdischen Literaturbestandes in Vilnius wird durch eine Reihe von Umständen kompliziert – nicht zuletzt durch die antijüdische Stimmung, die auch in Litauen spürbar ist. Dabei steht die zynische Frage im Raum, wozu all die Literatur noch nütze sei, nachdem Hitler 94 Prozent der litauischen Juden ermorden ließ. Ein Teil der Sicherungsbemühungen ist also bereits auf die Wertbestimmung auszurichten, um klarzumachen, daß es sich bei dem Material nicht um Makulatur handelt. Die Wertzuschreibung hat allerdings den fatalen Effekt, daß in den Büchern ein finanzielles Potential gesehen wird. Die rasche Erfassung, die dem Nachweis der Existenz dient, war auch unter diesem Gesichtspunkt eine vordringliche Maßnahme zur Bestandssicherung.

In dieser Konstellation herrschen erhebliche Spannungen. Da nur ein kleiner Teil des Literaturbestandes tatsächlich aus dem alten Yivo-Archiv stammt, wird er staatlicherseits nicht als Manifestierung von Yivo Vilnius, sondern als Teil der Litauischen Nationalbibliothek, Abteilung Judaika, betrachtet. Das Yivo New York hingegen würde gern zumindest den litauischen Yivo-Altbestand übernehmen, mit der Argumentation, daß der Großteil der alten Bibliothek ohnehin schon dort vorhanden ist. Dem hält die litauische Seite entgegen, keine Bibliothek würde Literatur weggeben, die am eigenen Ort entstanden ist. Auch fühlt sich die Nationalbibliothek als Institution brüskiert.

Insgesamt ist es zwar mit den Yivo-Dokumenten immer noch besser bestellt als mit einem Großteil des übrigen jüdischen Literaturbestandes in Osteuropa, etwa mit Büchern und Zeitschriften in der Kiewer Vernatzky-Bibliothek oder mit dem erdbebengeschädigten Bukarester Archiv. Die gegenwärtigen Lagerungsbedingungen der Bücher in der Litauer Nationalbibliothek sind so, daß nicht mehr als der normale Alterungsprozeß an dem Material nagt. Für die Forschung ist dies allerdings nur ein dürftiger Kompromiß, da die Bücher nicht ausleihbar sind.

So wurde auch seitens der Technischen Universität Berlin, namentlich an der Arbeitsstelle für Semiotik, über Sicherungsmöglichkeiten nachgedacht. Als sinnvollste Maßnahme wird hier ein Scan-Projekt erachtet, bei dem der Literaturbestand elektronisch in eine Datenbank eingelesen wird, von der aus die Werke dann wiederum als Faksimile abrufbar und ausdruckbar sind. Am jetzigen Standort sind die Bücher nur als Präsenzbestand nutzbar.

Eine Archivierung auf CD- ROM hingegen könnte eine dezentrale und weitgehend ortsunabhängige Nutzung ermöglichen, zudem würde sie die Grundlage für effektive Recherchearbeit per Computer bilden. Mit Blick auf die Gesamtsituation wäre eine elektronische Sicherung des Archivs in Litauen ein erster sinnvoller Schritt. Doch das Problem, eine solche Initiative in die Tat umzusetzen, besteht in der Finanzierung. Potentielle Geldgeber scheuen das unsichere Terrain.

Für den Bestand in Vilnius sehen die Dinge erfreulicherweise nicht mehr so hoffnungslos aus wie noch vor einem Jahr. Frau Bramson arbeitet unermüdlich. Sollten die geretteten Werke jemals wieder in einer eigenen Bibliothek stehen, sollte sie ihren Namen tragen.

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